Porträt der Woche

»Ich hatte sehr viel Glück«

Lebt heute in München: Hannelore Scher (85) Foto: Christian Rudnik

Porträt der Woche

»Ich hatte sehr viel Glück«

Hannelore Scher kehrte aus Shanghai nach Nazideutschland zurück

von Katrin Diehl  12.06.2019 13:31 Uhr

Ich habe schon einige Therapien gemacht, auch eine in Israel bei Mica Katz. Denn man ist ja schon irgendwie kaputt. Je älter ich werde, desto mehr Erinnerungen kommen hoch. Und die sind nicht immer gut. Dazu gehören zum Beispiel die Ratten, die immer wieder vor meinen Augen auftauchen, und die Wanzen, die meine Mutter auf so einer Stricknadel aufgespießt hat.

Wobei ich mich bemühe, meine Erinnerungen an unsere Zeit in Shanghai und auch an die Zeit danach in gute und schlechte zu unterteilen, und da sind natürlich auch noch die komischen und grotesken. Aus denen könnte man ein Buch machen.

Kindheit Aber ich möchte unbedingt sagen, dass wir immer sehr viel Glück hatten und dass Menschen, die vor mir geboren wurden, wahrscheinlich noch viel belasteter sind und noch viel mehr zu verarbeiten haben.

In meiner Kindheit habe ich vieles wie in einem Dämmerzustand erlebt. Ich habe immer etwas geahnt, aber Genaues gewusst habe ich nie. Über mir hing irgendwie etwas Bedrohliches. Und das ist eigentlich das Schlimmste, wie mir ein Therapeut erklärt hat. Ahnen ist viel schlimmer, als etwas genau zu wissen. Es gebe Menschen, die würden von so etwas schizophren. Also auch da habe ich schon wieder Glück gehabt.

»Je älter ich werde, desto mehr Erinnerungen kommen hoch.«

Nachdem ich lange im Dunkeln getappt bin, hatte ich irgendwann plötzlich so einen Trieb, alles zu erfahren. Ich habe nachgeforscht, recherchiert, habe Verwandte gesucht und gefunden, bin zu ihnen nach Israel gereist. Vor dieser Reise war ich natürlich schrecklich aufgeregt – obwohl mir meine Hebräischlehrerin hier in München, wo ich lebe, versichert hat: »Du brauchst keine Angst zu haben, die sind da alle sehr, sehr nett.«

Ich bin also zusammen mit meiner Schwester da hingereist, und die Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen haben uns sofort in ihre Familien aufgenommen. »Ihr gehört zu uns«, haben sie gesagt. Das war in den 90er-Jahren. Geboren wurde ich 1933 in Hamburg. Im Jahr der »Machtergreifung«.

SACHSENHAUSEN Ich sehe mir oft das Foto an, auf dem mein Vater zu sehen ist und das gemacht wurde, nachdem er 1939 aus dem KZ Sachsenhausen zurückgekehrt war. Sein Haar ist ganz grau, dieses Haar voller kleiner Löckchen, in die er zwei Pfund Wolffsche Fettcreme reingegeben hat, damit die einigermaßen lagen. Solche Sachen weiß ich noch. Solche Kleinigkeiten.

Mein Vater stammte aus einer orthodoxen Familie. Er war Kaufmann und hatte sein Büro im Hamburger Chilehaus. Sein Herrengeschäft hatten die Nazis ziemlich bald zugemacht. Aus dem KZ rausgekriegt haben wir ihn nur, weil meine Mutter Ausreisepapiere vorzeigen konnte, und zwar nach Shanghai. Das war zu jener Zeit der einzige Ort, der Juden noch aufnahm.

Wir vier sind also zuerst nach Triest gefahren – das gute Eis da werde ich nie vergessen – und haben dort die »Conte Verde« bestiegen, das letzte italienische Schiff, das Shanghai ansteuerte.

In Shanghai angekommen, wurden wir vom »Jüdischen Komitee« betreut. Man brachte uns in einem Heim unter, jeden Tag erhielten wir Essen. Irgendwann sind wir dann in eine kleine Wohnung im Stadtteil Hongkew umgezogen. Meine Mutter hat uns durch Näharbeiten über Wasser gehalten, und Verwandte aus Südafrika, die beiden Schwestern meines Vaters, die 1923 auf eigene Faust und ziemlich mutig ausgewandert waren, schickten uns ein wenig Geld.

In Shanghai angekommen, wurden wir vom »Jüdischen Komitee« betreut.

Mein Vater ist dann aber leider in Shanghai sehr bald gestorben. Er hatte die Ruhr. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er ständig heißen, starken Tee trinkt. Weil meine Mutter gerne tanzte, ist er mit ihr zu Tanzveranstaltungen gegangen, hat sie tanzen lassen und sich selbst in eine Ecke zurückgezogen, in der er saß und seinen Tee trank.

Als Kind wusste ich nicht, was wir überhaupt in Shanghai verloren hatten. Diese Ungewissheit wirkt sich auf meine Erinnerungen aus. Ich weiß nicht mehr viel. Trotzdem gibt es solche Splitter, Bilder, Momente. Zum Beispiel sehe ich noch diesen Eimer vor mir, diesen Eimer voller toter Babys. Der war von den Chinesen, die nur männliche Neugeborene akzeptierten.

Einmal hatte ich im Internationalen Park einen Jungen aus Weißrussland von der Schaukel gestoßen. Alle Zähne waren draußen. Ich bin entsetzt nach Hause gerannt, weil das ja ganz furchtbar blutete, und meine Mutter hat gesagt: »Na, wer weiß, ob die von da drüben dich nicht bald abholen kommen.« Die von da drüben, das waren Sikhs mit Turbanen auf dem Kopf, die vor dem englischen Gefängnis patrouillierten. Das Wort »abholen« hat mir eine derartige Angst eingejagt, dass ich meinen geliebten Kakao mit dem süßen Brötchen dazu nicht runterkriegen konnte.

RIKSCHAS In der Nachbarschaft hatten wir einen Frommen, der seine Frau mit der Tora schlug. Und die Menschen haben sich gelaust, auch gegenseitig und an den unmöglichsten Stellen. Ganz schrecklich habe ich gefunden, wenn die Kulis mit ihren Strohschuhen die Rikschas ziehen mussten und dabei so laut keuchten.

Nach dem Tod meines Vaters sind wir wieder nach Deutschland zurückgegangen. Ein deutscher Konsul hatte das meiner Mutter geraten. Demnächst würden die Japaner kommen, hat er gesagt, und die würden hier ein jüdisches Ghetto errichten. »Geht nach Deutschland zurück«, hat er gesagt, »da seid ihr sicher.« Der hatte wohl keine Ahnung davon, was in Deutschland alles mit »Halbjuden« passieren konnte.

Wir sind dann seinem Rat gefolgt und mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Moskau gefahren. Dort haben wir vor dem Fenster viele Menschen gesehen, deren Beine in alten Lappen steckten. Das Elend war also wirklich schon überall angekommen. Im Zug gab’s ständig solche Spiegeleier mit ganz glibberigem Dotter, was meine Schwester und ich schrecklich eklig fanden.

In Lübeck habe ich später das Gymnasium nachgeholt und ein Jahr aussetzen müssen, weil ich Tuberkulose bekam.

Nazi Zurück in Deutschland, lebten wir in Travemünde. Da wohnte die Schwester meiner Mutter zusammen mit dem Onkel Richard, einem Nazi. Ich ging wieder zur Schule, und da ist es dann passiert ... Ich habe, ohne mir viel dabei zu denken, ein Lied vor mich hin geträllert, »I sent a letter to my mother ...«. Die anderen haben erstaunt geguckt und gefragt: »Was ist das denn?« Ich sagte: »Das ist Englisch, das habe ich in Shanghai gelernt.« Und die dann: »Ja, ja, Shanghai, glauben wir dir sofort« – was mich wirklich wütend gemacht hat.

Ich bin nach Hause, habe in meinen Sachen gesucht und noch ein Heft aus der jüdischen Schule in Shanghai gefunden, darauf ein großer Magen David. Das habe ich allen gezeigt und gefragt: »Glaubt ihr mir jetzt?« Die Lehrerin hatte das natürlich mitbekommen und große Augen gekriegt. Ab da wurde das Leben anders. Ich war jetzt eine »Halbjüdin«, und zum ersten Mal wurde mir klar, dass ich einen jüdischen Vater hatte und dass das etwas bedeutete.

Meine Schwester und ich, wir durften nicht auf die höhere Schule, und meine Mutter wäre um ein Haar in die Rüstungsindustrie gekommen. Dass das nicht passiert ist, verdanken wir einer Postbotin, die den Bescheid einfach nicht bei uns in den Briefkasten geworfen hat. »Scher kenne ich nicht, weiß nicht, wo die wohnen«, hat sie gegenüber ihren Vorgesetzten gesagt, wie wir nach dem Krieg erfahren haben.

TUBERKULOSE In Lübeck habe ich später das Gymnasium nachgeholt und ein Jahr aussetzen müssen, weil ich Tuberkulose bekam. Mithilfe der Studienstiftung des deutschen Volkes konnte ich nach dem Abitur in München Englisch und Französisch studieren, arbeitete da später auch als Lehrerin und habe die wilden 60er-Jahre miterlebt. Wir Lehrer waren damals ja recht aufmüpfig und auch ziemlich links und oft mit Demonstrieren beschäftigt. Unter den Direktoren gab es einige, die wirklich unausstehlich waren.

Zusammen mit meinem Mann, der leider vor zwei Jahren gestorben ist, bin ich jedes Jahr im Herbst nach Israel gereist, nach Ein Gedi am Toten Meer. Das hat uns gut getan bis in die Seele. Danach ging’s 14 Tage nach Tel Aviv, wo mein Lieblingscousin Julian lebte.

Ich würde sagen, dass ich heute mit 85 Jahren bei mir angekommen bin. Ich befinde mich zwischen den Stühlen und kann damit leben. Ich lerne weiter He­bräisch, gehe in der Gemeinde zum israelischen Volkstanz. Vor Kurzem habe ich erfahren, dass im Namen Scher die hebräischen Wörter ascher und oscher stecken. Ascher ist einer der reichen Stämme, und oscher bedeutet – na, was wohl? Es bedeutet das, was ich immer hatte: Glück.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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