Bilanz

»Ich bin die Spitze des Eisbergs«

Will in der Zivilgesellschaft die Sensibilität schärfen: Sigmount Königsberg Foto: Gregor Zielke

Bilanz

»Ich bin die Spitze des Eisbergs«

Sigmount Königsberg über Antisemitismus an Schulen, muslimische Partner und Ziele für 2019

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  20.12.2018 10:21 Uhr

Herr Königsberg, seit mehr als einem Jahr sind Sie Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Wie oft klingelt seitdem Ihr Telefon?
Das ist unterschiedlich. Manchmal mehrmals täglich. Manchmal ist es ein bisschen ruhiger, wie etwa zu Beginn des Schuljahres. Mittlerweile haben die Anrufe wieder zugenommen.

Wie reagieren Sie, wenn Ihnen jemand von einem antisemitischen Vorfall erzählt?
Ich höre mir erst einmal die Geschichte an. Ich höre zu. Dann versuchen wir, gemeinsam eine Lösung zu finden. Denn meine Erfahrung bisher ist: Es gibt nicht die eine Lösung. Und auch die Bedürfnisse der Menschen sind ja individuell unterschiedlich. Bei dem einen gehe ich mit zur Polizei, um Anzeige zu erstatten, bei dem anderen vermittle ich einen Anwalt, weil er erst einmal juristischen Rat sucht. Oder rate zu einer professionellen psychologischen Unterstützung, schließlich bin ich kein ausgebildeter Psychologe. Da komme ich mitunter auch an meine Grenzen.

Wie würden Sie Ihre Aufgabe beschreiben?
Ich sehe mich als Teil eines Netzwerks. Ich arbeite eng mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zusammen, zudem mit Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST), mit verschiedenen Anwälten, Psychologen und dem Land Berlin, darunter der Antidiskriminierungsbeauftragten der Berliner Schulverwaltung, Saraya Gomis. Ich bin in erster Linie Ansprechpartner für Gemeindemitglieder, damit sie wissen: Jemand ist für sie da.

In Ihrem ersten Amtsjahr hatten Sie bereits alle Hände voll zu tun. Angefangen von der antisemitischen Attacke auf das Restaurant Feinberg’s im Dezember 2017 über den Gürtelschläger im April bis hin zu dem Vorfall an der John-F.-Kennedy-Schule im Juni. Was sind Ihre ersten Schritte, wenn Sie von einem antisemitischen Vorfall hören, gerade an Schulen?
Das hängt immer von der jeweiligen Situation ab. Ich habe Schulen erlebt, die sehr kooperativ waren, andere haben mehr oder weniger abgeblockt. Das sind dann auch die Fälle, bei denen es eskaliert und schließlich an die Öffentlichkeit gelangt – wie etwa bei der JFK.

Aber so weit muss es gar nicht kommen?
Wenn die Schule zu Gesprächen bereit ist, kann man damit natürlich ganz anders umgehen. An einer anderen Schule etwa gab es einen Fall, woraufhin ich die Schulleitung anrief. Zwei Tage später hatte ich einen Termin mit der Schulleiterin, wir haben uns zusammengesetzt, und direkt danach wurden Maßnahmen ergriffen – sehr zügig, sehr zeitnah.

Es geht also auch anders. Was ist an der JFK schiefgelaufen?
Sie haben versucht, das Ganze möglichst unterm Deckel zu halten. Ich hatte mich an die Schule gewendet – eine ganze Zeit, bevor der Fall überhaupt publik wurde. Die Schule hat die Treffen auf die lange Bank geschoben. Zwischen den Zeilen habe ich gelesen: Es interessiert uns nicht so sehr. So wie es an der JFK gelaufen ist, war es ein »Worst Case«-Szenario – wir haben nur Verlierer: Der jüdische Junge verließ die Schule, weil die Eltern kein Vertrauen mehr hatten. Die Täterkinder – ich sage Kinder, denn auch mit 14, 15 sind diese Schüler ja noch Kinder – wurden relegiert, mussten also auch die Schule verlassen und interpretieren das für sich so: Wegen des Juden mussten wir die Schule verlassen. Und die Schule selbst hat durch die Art und Weise, wie sie mit dem Fall umgegangen ist, auch verloren. Ich denke, das hätte nicht sein müssen. Denn ich will vielmehr eine Win-win-Situa­tion für alle.

Wie weit ist ein Fall von Antisemitismus schon fortgeschritten, bis sich Gemeindemitglieder an Sie wenden?
In der Abfolge bin ich gewissermaßen die Spitze des Eisbergs. Wenn die Leute mich informieren, ist es meistens schon fünf vor zwölf. In vielen Fällen erzählen Kinder ihren Eltern gar nicht, wenn etwas vorfällt. Es muss schon einiges passieren, bis sie überhaupt berichten. Es dürften Unmengen sein, die unberichtet und ungehört bleiben. Im nächsten Schritt setzen sich die Eltern mit der Schule in Verbindung. Erst, wenn das nicht mehr klappt und da etwas schiefläuft, werde ich aktiv. Ich versuche dann in nächster Instanz, zusammen mit Saraya Gomis sowie dem Qualitätsmanagement der Senatsbildungsverwaltung, etwas zu bewegen. Aber das ist oft sehr schwierig.

Woran liegt das?
Manchmal stellen sich die Schulen gerade dann stur, wenn ein Eingriff von der Senatsbildungsverwaltung kommt. Sie empfinden das als Angriff auf ihre Autonomie, als Einmischung von oben. Hinzu kommt: Viele sehen auch nicht, was sie falsch gemacht haben. Nehmen wir das Beispiel der Friedenauer Gemeinschaftsschule – Antisemitismus wird negiert und bagatellisiert nach dem Motto: »Das ist kein Antisemitismus, das ist doch nur ein Konflikt.« Nein, ist es eben nicht. Denn Konflikte trägt man auf Augenhöhe aus. Antisemitische Übergriffe aber haben etwas mit Machtausübung zu tun: Einer hat Macht über andere. Dieses Prinzip begegnet mir immer wieder bei meiner Arbeit. Oft höre ich: »Bei uns gibt es so etwas nicht.«

Welche Bilanz ziehen Sie bis jetzt – auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen?
Da müssen wir noch weiter zurückgehen als bis Dezember 2017. Ein gesellschaftlicher Wendepunkt begann für mich bereits 2012 mit der Debatte um die Brit Mila. Da zeigten sich antisemitische Ressentiments in der Mehrheitsgesellschaft. Das war wie eine Ohrfeige, weil es aus gutbürgerlichen Kreisen kam. Dass Neonazis sich da sofort eingeklinkt haben, war klar, von denen erwarte ich nichts anderes. Der zweite Einschnitt folgte 2014, als auf den Straßen unwidersprochen »Hamas, Hamas, Juden ins Gas!« propagiert wurde und aus der Zivilgesellschaft kein Widerspruch kam. Der dritte gravierende Aspekt ist das Erstarken der AfD. In meinen Augen ist sie blau lackierte NPD, denn ich merke: Die Partei propagiert Hass und ein Schwarz-Weiß-Bild. Ich hielt die AfD von Anfang an für strukturell antisemitisch. Die Gesellschaft muss nun zeigen, dass sie Ausgrenzung nicht duldet. Nur so kann Vielfalt, kann auch jüdisches Leben blühen. Jüdisches Leben, auch in seiner inneren Vielfalt, kann es nur in einer offenen liberalen Demokratie geben.

Wo wollen Sie weitere Akzente setzen?
Im Kampf gegen BDS. Da sind wir auf politischer Ebene schon sehr aktiv. Für mich ist BDS eindeutig eine neuzeitliche Wiederaufnahme der Methoden aus den 30er-Jahren. Es geht gar nicht um die Palästinenser und schon gar nicht um eine Friedensregelung zwischen Israelis und Palästinensern. BDS hat auch nichts damit zu tun, ob man Netanjahu kritisiert oder nicht. Israelische Oppositionelle kritisieren Netanjahu auch. Zum Glück haben wir mit Klaus Lederer einen Senator, der sich da wirklich eindeutig positioniert und auch Angriffe aushält. Wenn man bei Veranstaltungen, auf denen Schoa-Überlebende reden, herumkrakeelt oder den Kultursenator niederbrüllt, dann ist das der Punkt, an dem ich absolut kein Verständnis habe. Allein dieses Niederbrüllen ist pure Gewalt und kein demokratischer Diskurs. Wenn Menschen Demokratie fordern, müssen sie auch bereit sein, die Gegenposition zumindest anzuhören. Deswegen ist mein Kampf gegen Antisemitismus auch immer ein Kampf für Demokratie, für demokratische Werte. Wir müssen uns immer vor Augen halten: Was man bei Juden zulässt, lässt man auch bei anderen zu. Es kann nicht sein, dass Menschen angegangen werden, weil sie Juden sind oder Muslime, oder weil sie eine andere Hautfarbe haben – wir können die Liste an dieser Stelle beliebig weiterführen.

Sie arbeiten auch mit muslimischen Vertretern zusammen. Welche Strategie haben Sie entwickelt, was Antisemitismus unter Muslimen angeht?
Ich glaube, nur mit Muslimen gemeinsam kann man diesen Weg gehen – er ist schwierig und dornig. Ja, ich kann mit einer Keule kommen und dem Strafrecht – wenn es sein muss, muss es auch angewandt werden –, aber in den meisten Fällen hilft das nichts, es ändert nichts an der Grundhaltung. Daher muss man versuchen, die Köpfe zu erreichen. Und das geht nur, wenn man zusammenarbeitet, so schwierig das auch sein mag. Wenn man Antisemitismus unter Muslimen adressieren und etwas erreichen will, braucht man Partner. In Sawsan Chebli und Dervis Hizarci sehe ich Partner, ebenso in Lamya Kaddor oder Ahmad Mansour, um nur ein paar Namen zu nennen. Schwieriger ist das Verhältnis zu den muslimischen Verbänden. Was besser klappt, ist die Zusammenarbeit jenseits von ihnen: zum Beispiel ELES mit Avicenna, das jüdische und muslimische Studierendenwerk, wo sich Studierende austauschen. Das können Schritte sein, die eher zum Erfolg führen.

Wie optimistisch gehen Sie ins nächste Jahr?
Wir sind an einem Scheideweg. Man traut sich mehr als früher. Eine Frau mit Magen-David-Kette kann sich nicht frei bewegen, ohne Angst zu haben, angegriffen zu werden. Daran müssen wir noch arbeiten. Dennoch: Angst ist kein guter Ratgeber. Angst führt zu einer Verengung. Das führt dazu, dass man sich verschließt. Ich komme aus Saarbrücken; die Gemeinde hatte damals gerade einmal 150 Mitglieder. Ich wuchs auf in dem Bewusstsein: Entweder gehe ich nach Frankreich oder Israel. Hier in Deutschland zu bleiben, kam so gut wie gar nicht infrage. Das änderte sich erst in den 80er- und 90er-Jahren. Es war die Zeit, in der man die Koffer ausgepackt hatte. In der gesellschaftlichen Situation, in der wir jetzt sind, denke ich manchmal: Wir sollten schauen, wo die Koffer sind. Und dennoch – oder gerade deshalb – sehe ich meinen Hauptschwerpunkt darin, dass in der Zivilgesellschaft die Sensibilität geschärft wird. Ich erwarte gar nicht, dass man interveniert, es reicht mir, wenn jemand, der Zeuge antisemitischer Vorfälle wird, die Tat dokumentiert – die Situation mit dem Handy filmt, die Polizei ruft. Sowohl der Fall Feinberg’s vor einem Jahr als auch der von Adam, der im April mit dem Gürtel attackiert wurde, wurden auch deshalb so bekannt, weil es Videoberichte gab. Wenn wir dazu beitragen, dass Menschen nicht wegschauen und Dinge nicht einfach geschehen lassen, haben wir mit unserer Arbeit schon viel erreicht.

Mit dem Antisemitismusbeauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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