Porträt der Woche

»Ich bin da«

»Meine Hunde halten mich fit«: Simone Pelikan (54) aus Münster Foto: Arne Meyer

Porträt der Woche

»Ich bin da«

Simone Pelikan hat sich nach einem Koma in ihrer Jugend zurück ins Leben gekämpft

von Christine Schmitt  03.12.2023 17:17 Uhr

Die ganze Zeit spürte ich, dass jemand bei mir war. Mein Vater saß an meinem Bett und wich kaum von meiner Seite – heute denke ich, dass sein Lebenswille, den er als junger Mensch haben musste, um Auschwitz zu überleben, auch auf mich übergegangen ist. Ich war damals 18 Jahre alt, wollte in den kommenden Wochen mein Abitur schaffen – und lag nach einem schweren Autounfall im Koma. Insgesamt verbrachte ich fast zwei Jahre in Kliniken, bis ich wieder eigenständig atmen und laufen konnte. Alles musste ich neu lernen und auch mit meinen Erlebnissen fertig werden.

Die unbeschwerte Autofahrt mit Freunden endete für mich, als sich der Wagen acht- bis zehnmal überschlug. Ich war Beifahrerin, und da ich angeschnallt war, kam ich nicht raus aus dem Wagen. Ein Lichtstrahl zog mich nach oben, und eine Stimme sprach zu mir. Von oben betrachtete ich die Unfallstelle. Ich sah Menschen hin und her laufen. Ein Bundeswehrsoldat erklärte meinem damaligen Freund, der beim Unfall hinter mir im Auto saß, dass ich wohl tot sei. Ich sah es und dachte, dass ich doch hier bin.

Eine Stimme fragte mich, ob ich weiter nach oben möchte

Eine Stimme fragte mich, ob ich weiter nach oben möchte. Das gab mir ein wohliges Gefühl – aber ich spürte jemanden an meiner Seite und wollte zurück. Und schaffte es auch. Das war meine Nahtoderfahrung. Viele Knochen hatte ich mir gebrochen und ein schweres Schädelhirntrauma davongetragen. Unzählige Operationen folgten.

Mein Vater war für mich ein sehr weiser Mann und ein Vorbild.

Bis zu diesem Tag war ich eine erfolgreiche Leistungssportlerin beim Geräteturnen. Von Wettkämpfen kam ich stets mit Medaillen und Auszeichnungen zurück. Der Sport hat mich auch sehr mit meinem Vater verbunden, der ebenfalls sehr aktiv war und den Verein Makkabi in Münster mitgegründet hat. Mein Vater, Günther Pelikan, oder Gidon Ben Abraham, war für mich ein sehr weiser Mensch und mein Vorbild.

Mit zwölf Jahren wurden er und seine Mutter verhaftet und deportiert. Danach überlebte er fünf Jahre lang Auschwitz. Seine beiden älteren Brüder waren noch rechtzeitig ausgewandert. Nach der Schoa fand er seine Mutter wieder. Zusammen gingen sie nach Eretz Israel, wo einer seiner beiden Brüder lebte. 1947 kämpfte er im Unabhängigkeitskrieg und 1956 im Suez-Krieg.

Aufgrund einer Erkrankung seiner Mutter verschlug es die beiden 1957 nach Münster, wo das Klima für meine Oma, Lotte Friedländer, gesundheitlich besser war. Er hatte ihr das Versprechen gegeben, sie niemals im Stich zu lassen, nachdem sie die Hölle von Auschwitz überlebt hatten, und begleitete sie deshalb. Als 1962 die neue Synagoge an der Stelle errichtet und eingeweiht wurde, wo 1938 die Nazis sie geschändet und niedergebrannt hatten, war mein Vater dabei. Er wuchs als einfaches Gemeindemitglied in immer größere Aufgaben hinein, wurde wiederholt in die Repräsentanz der Gemeinde gewählt und ebenfalls in den Vorstand. Von 1991 bis 1994 war er Vorsitzender und danach Ehrenvorsitzender.

Ursprünglich wollte ich Chirurgin werden

Nachdem ich mich wieder ins Leben zurückgekämpft hatte, holte ich mein Abitur nach und studierte in Münster auf Lehramt für die Primarstufe. Ursprünglich wollte ich Chirurgin werden, aber das ging nun nicht mehr, aufgrund einer Gehbehinderung als Folgeschaden des Autounfalls. Während meines Studiums verdiente ich mir meinen Lebensunterhalt, indem ich kellnerte.

Und auch während des anstrengenden Referendariats – ich war damals schon Mutter – arbeitete ich weiter. Schließlich unterrichtete ich auf eigenen Wunsch an »0ffenen Ganztagsschulen«, mit einem jahrgangsübergreifenden Lernkonzept, weil ich dieses Modell sehr befürworte. In der ersten Klasse, vor der ich stand, saßen Kinder aus elf verschiedenen Nationen. Das war schon eine Herausforderung! Vor allem Kinder aus vermeintlich schwierigem Umfeld förderte ich gern, um ihnen einen guten Start ins weitere Leben zu ermöglichen. Nach über 20 Jahren bin ich aus gesundheitlichen Gründen in den Vorruhestand gegangen, da die Spätfolgen meines Unfalls mich körperlich zu stark beeinträchtigen.

Mich zog es nie weg aus dieser schönen Stadt. Nur das Auswandern nach Israel, wo ein Teil meiner Familie lebt, wäre für mich eine Option gewesen. Was mir wichtig ist und war, ist, ein Zuhause zu haben und zu zeigen: Ich gehöre hierhin, nicht auch als Jüdin, sondern gerade weil ich Jüdin bin und diese Geschichte habe! Meine Eltern, die ihren ganzen Besitz während der Schoa verloren haben, wurden dadurch geprägt, dass man alles Materielle verlieren kann.

»Eine eigene Immobilie lohnt sich nicht, du kannst sie nicht mitnehmen«, sagten sie immer. Aber ich wollte etwas Eigenes, wo ich mit meinem Mann, meinen beiden Töchtern und unseren Hunden leben konnte. Unsere drei Hunde halten mich fit und aktiv, mit Spaziergängen, Radfahren und Hunde­sport. Ein großer Wachhund ist darunter, der mir in der aktuellen Situation das Gefühl von Schutz und Sicherheit gibt.

Mein Vater war jüdisch, meine Mutter nicht.

Mein Vater war jüdisch, meine Mutter nicht. Sie ließen meinem jüngeren Bruder und mir die Wahl, für welchen Glauben wir uns entscheiden wollen. Beide haben wir uns zum jüdischen Glauben hingezogen gefühlt. Unser Vater hat uns oft mit in die Gemeinde zu den Gottesdiensten genommen. Später bin ich ganz offiziell übergetreten und versuche heute, mein Bestes zu geben, um mich für die Gemeinde zu engagieren. Gern besuche ich auch Schulen, um Schülern das Judentum näher zu bringen. Außerdem möchte ich mich für die Chewra Kadischa engagieren, wofür ich demnächst an einem Seminar teilnehmen werde.

Wenn ich daran denke, wie ich meinen Mann kennengelernt habe, muss ich immer schmunzeln. Es war Liebe auf den ersten Blick – und unsere Ehe hält bis heute. Wir haben standesamtlich geheiratet. Bei der Hochzeitsfeier war es sehr schön, dass mein Bruder unseren Gästen die Rituale einer jüdischen Hochzeitszeremonie vorgestellt hat. Auch ein Glas haben wir zum Schluss zertreten.

Meine beiden Töchter sind am Gemeindeleben aktiv beteiligt. Meine Älteste konnte ihre Batmizwa im umgebauten Schalom-Saal feiern, und in naher Zukunft wird das auch unsere Jüngere tun. Außerdem nimmt sie an Aufführungen und Feierlichkeiten unseres Jugendzentrums »Hatikvah« teil. Das Jugendzentrum wurde gerade erst modernisiert, sodass es jetzt auch für unsere Teens attraktiv geworden ist. Wir haben nun zwei Gruppen, von denen ich die Gruppe der Jüngeren leite. Unser Programm wird in Teamarbeit mit meinen beiden Madrichot sorgfältig vorbereitet, mit viel Liebe, pädagogisch und religiös abgestimmt auf die jeweiligen Themen. Derzeit arbeiten wir an einer Aufführung für die Chanukkafeier.

Was mich sehr ergriffen hat, war die Jewro­vision im vergangenen Jahr.

Was mich sehr ergriffen hat, war die Jewro­vision im vergangenen Jahr. In Berlin waren wir noch als Zuschauer dabei, doch bei der letzten Jewro in Frankfurt standen unsere Kids auf der Bühne als Team »We.Zair«. Es war großartig, die Gemeinschaft und so eine Show erleben zu können. Meine Jüngste hat seitdem viele neue Kontakte geknüpft und merkt, dass wir als Juden nicht allein auf der Welt sind.

Besonders den Austausch mit unseren israelischen Familien in der Gemeinde liebe ich sehr, sie bringen mir das Gefühl von Heimat und Identität ein Stück näher und lassen durch ihre Kinder wieder neues Leben in die Gemeinde fließen.

Interreligiöser Dialog

Der interreligiöse Dialog interessiert mich ebenso wie die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Israel, sodass ich schon vor Jahrzehnten der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft beigetre­ten bin. Aktuell engagiere ich mich bei verschiedenen Spendenaktionen für Israel, habe bei einer Mahnwache Flagge gezeigt und an Gedenkkundgebungen für die nach Gaza entführten Geiseln teilgenommen. Eine Spendenaktion für den von der Hamas überfallenen Kibbuz Reʼim in Israel habe ich ins Leben gerufen, da wir Familienangehörige in unserem Jugendzentrum haben, die genau aus diesem Kibbuz kommen, und wir uns somit wie selbst betroffen fühlen.

Dass ich mich für die Gemeinde engagiere, ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Schließlich bin ich dort groß geworden. Mittlerweile wurde ich in die Gemeindevertretung gewählt und versuche, Gutes zu tun für unseren Glauben und für die Zukunft unserer Gemeinde. Sich zu verstecken, gibt es bei mir nicht, ich zeige mein Gesicht auch bei zunehmendem Antisemitismus und der aktuellen Situation in Israel, die mir große Sorge bereitet. Aber dass viele hinter einem stehen, gibt mir Halt. Meine Tage sind mit meinen vielen Aktivitäten häufig komplett ausgefüllt – für Verabredungen muss ich schon mal nach freier Zeit in meinem Kalender schauen.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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