Meinung

Hoffen auf Hoffnung

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch spricht bei der Kundgebung »Trauer an der Seite Israels« auf dem Jakobsplatz am 12. Oktober. Foto: IKG München und Oberbayern/Andreas Gregor

Wenige Tage nach dem mörderischen Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober nahm der britische Oberrabbiner Rabbiner Ephraim Mirvis in London an einem Gebet für den Staat Israel teil.

Unter Bezugnahme auf den Wochenabschnitt und den darin enthaltenen Schöpfungsbericht zitierte er in seiner Rede das berühmte Tohuwabohu: »Chaos und Verwirrung« hätten zu Beginn zwar dominiert, seien am Ende aber doch von Ordnung und Frieden überwunden worden. »Dafür«, so Mirvis, »beten wir auch an diesem Abend.«

In dieser Hoffnung ist seitdem die jüdische Gemeinschaft in aller Welt vereint, denn von Ordnung und Frieden kann in diesen Tagen leider keine Rede sein. Uns in der Diaspora belastet nicht nur der Schmerz der Menschen in Israel, vielmehr bedroht uns der wieder aufbrandende Hass gegen den jüdischen Staat und alles Jüdische unmittelbar.

Trauer in schwerer Zeit

Deshalb war es für uns so wichtig, dass unsere Trauer in dieser schweren Zeit eine gemeinsame Trauer war. Und deshalb bedeutete es uns viel, dass zur Kundgebung »Trauer an der Seite Israels«, die unsere Kultusgemeinde kurz nach dem Massaker ausrichtete, Politik und Gesellschaft prominent ihre Unterstützung bekundeten. Trotz aller Schrecknisse konnten wir als jüdische Gemeinschaft so wenigstens in einem sicher sein: Wir stehen nicht allein.

Fast ein Vierteljahr nach dem »Schwarzen Schabbat« des 7. Oktober gibt es die Gewissheit längst nicht mehr.

Fast ein Vierteljahr nach dem »Schwarzen Schabbat« des 7. Oktober gibt es diese Gewissheit aber längst nicht mehr. Heute steht zwar noch die Politik an unserer Seite; das ist nicht wenig und für uns Anlass zur Dankbarkeit. Aber wir müssen erkennen, dass die große Solidarität der Gesellschaft – so es sie in voller Breite je gab – sich inzwischen wieder verflüchtigt hat. Vergangen sind die Tage, als uns aufmunternde Briefe und Mails erreichten, und vergessen sind offenbar die noch immer weit über 100 Schicksale von israelischen Zivilisten, die unter entsetzlichen Bedingungen im Gazastreifen gefangen gehalten werden.

Ohnehin kaum noch präsent ist das Andenken an die über 1200 israelischen Bürger, die von den Mordkommandos der Hamas überfallen, misshandelt, vergewaltigt, gefoltert und ermordet wurden. Der Vergleich zu den Einsatzgruppen der Nazis, der in Israel wiederholt gezogen wurde, ist aus meiner Sicht nicht übertrieben.

Trotzdem scheinen die deutsche und weltweite Öffentlichkeit ihren kurzen Schock schnell überwunden zu haben. Schon lange steht nicht mehr der Massenmord der Hamas an Zivilisten im Fokus, sondern die israelische Reaktion darauf. Die Strategie der Terrororganisation, neben den verschleppten Israelis ein weiteres Mal ihre eigene Bevölkerung in Geiselhaft zu nehmen und Israel zu Angriffen auf ihre Kommandoposten in Krankenhäusern, Schulen und Moscheen zu zwingen, ist auch hierzulande aufgegangen. Die anfangs deutlichen Worte der Unterstützung für Israel sind längst wieder zum altbekannten »Ja, aber« geronnen, und der zwischenzeitlich klare Blick auf die Lage in Israel ist erneut vernebelt.

Es passt in dieses Muster, dass in Deutschland seit dem Pogrom vom 7. Oktober nicht etwa die Unterstützer der Täter in Angst leben müssen, sondern die Freunde und Angehörigen der Opfer. Jüdische Menschen wurden nicht nur in den Straßenschlachten auf der Berliner Sonnenallee als »Zionisten« und damit Feinde markiert, sondern auch an diversen Universitäten, in denen Aktivisten öffentliche Räume für ihre Verharmlosung des Mordens besetzten.

Wir in München können uns dabei noch vergleichsweise sicher fühlen, Zustände wie in Berlin gibt es hier bislang nicht. Aber als Präsidentin der Kultusgemeinde erlebe ich schon jetzt täglich, wie die Entwicklung auch unsere Mitglieder zermürbt. In vielen Gesichtern sehe ich Angst und, noch alarmierender, Resignation.

Wozu, fragen sich auch in München viele, haben wir überhaupt jahre- und jahrzehntelang für jüdische Normalität gekämpft? Was wurde wirklich erreicht, wenn uns zu unserer eigenen Sicherheit doch wieder und wieder nur der Rückzug aus der Öffentlichkeit bleibt? Und auch diese Frage stellt sich: Was ist das eigentlich für ein Land, das all das zulässt? Wo sind die Stimmen, wo die Taten, die jüdischem Leben Gegenwart und Zukunft geben?

In denen, die für unsere freiheitlichen Werte stehen, werden wir Zuversicht finden.

Als Vorwurf an die Politik möchte ich diese Worte nicht verstanden wissen, denn in den Verantwortlichen auf allen staatlichen Ebenen haben wir gute Freunde und verlässliche Partner. Aber das kurze Gedächtnis der breiten Gesellschaft, ihre Indifferenz gegenüber wachsendem Judenhass und eine nahezu ignorante Unkenntnis der Sorgen in der jüdischen Gemeinschaft machen uns zu schaffen.

Angst kann vorübergehen, Resignation wirkt tiefer

Angst kann vorübergehen, aber Resignation wirkt tiefer: Keine Sicherheitsschleuse kann uns vor ihr schützen, kein politischer Besuch kann genug Vertrauen wiederherstellen. Woher soll die Zuversicht kommen, wenn die einen fordern, Israel solle durch »Mäßigung« den Mördern Straffreiheit gewähren, und die anderen eine rechtsextreme Partei in politische Verantwortung wählen?

Für das neue bürgerliche Jahr 2024 bleibt uns in dieser Lage vor allem die Hoffnung auf die Hoffnung. In allen Menschen, die im Kampf für unsere freiheitlichen Werte und gegen den Hass an unserer und Israels Seite stehen, werden wir Zuversicht finden. Und wir schließen uns den Worten an, mit denen auch Rabbiner Mirvis seine Ausführungen in London beendete: »Osseh schalom bimromav, hu ja›aseh schalom alejnu we‹al kol Jisrael« – Er, der Frieden stiftet in seinen Höhen, Er möge auch uns den Frieden bringen und ganz Israel.

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