Zeitzeuge

»Heute gibt es nur noch mich«

Shlomo Graber in einer Rosenheimer Schule Foto: Katrin Diehl

Eigentlich ist es nur konsequent, wenn der demnächst 91-jährige Shlomo Graber in einer unbeobachteten Minute den Kopf mit dem vollen, nach hinten gelegten weißen Haar hin und her wiegt, sich auf dem Stuhl zurücklehnt, mit der Hand nach der festen Tischkante fasst und sagt: »Nein, nein, für mich gibt es kein letztes Mal, wissen Sie, ich hasse es zu sagen, jetzt geht es nicht mehr weiter, wo es doch immer irgendwie weitergeht.«

Gerade hat Shlomo Graber vor etwa 600 Schülern zwischen 14 und 17 Jahren einen Vortrag in Rosenheim gehalten, frei, eine knappe Stunde lang, hinter einem Pult stehend und ohne sich bei den hochsommerlichen Temperaturen von seinem Sakko zu trennen. Dass es sich bei diesem Vortrag entgegen der Vorankündigung eventuell doch nicht um seinen »allerletzten« handelt, hat viel mit Shlomo Graber zu tun, der drei Konzentrationslager und einen Todesmarsch überlebt hat und während dieser Zeit für sich bestimmte, »dass es immer irgendwie weitergehen« müsse. »Da gab es diese Stimme in meinem Kopf, die mir immer wieder zuzurufen schien: ›Gib nicht auf, Shlomo Graber, gib nicht auf!‹.«

familie 1926 in den Karpaten in der Tschechoslowakei geboren, aufgewachsen in Ungarn, in Nyírbátor, wo der Vater herkam, hat man den Jungen zweimal »abgeholt«: einmal im Sommer 1941, ein zweites Mal im Mai 1944. Das erste Mal sind Shlomo, seine Mutter und Geschwister nach einer ebenso riskanten wie abenteuerlichen Aktion des Vaters an der polnischen Grenze gerade noch gerettet und zurückgeholt worden. Beim zweiten Mal brachte der Zug die Familie nach Auschwitz-Birkenau.

An der Rampe kommt er nach »links«, zusammen mit dem Vater, und überlebt. Die Mutter, die Großmutter und die drei kleinen Geschwister Bernard, Lili und Izhak kommen nach »rechts« und werden noch am selben Tag ermordet.

Der Vater, zu dem der Junge bisher ein eher distanziertes Verhältnis gehabt hatte, ist ihm geblieben. Man hängt aneinander, sucht Wege, das alles zu überstehen, und bald erweist sich das Kind als derjenige mit dem pragmatischeren Überlebenswillen. Der Vater lässt sich von ihm anschreien, ohrfeigen. Die Rollen von Vater und Sohn kehren sich um.

lager Shlomo Graber berichtet hoch konzentriert und ohne Pause. Er fasst zusammen, was er in zwei Büchern festgehalten hat. Grausamkeiten folgen auf Grausamkeiten. Lager für Lager. Von Auschwitz aus kam er nach Fünfteichen, ein Nebenlager des Hauptlagers Groß-Rosen in Niederschlesien, auf keiner Karte zu finden, da es eigens für die deutsche Rüstungsindustrie errichtet worden war. Darauf folgte dann das »Außenlager Görlitz«, wo das »kriegswichtige Unternehmen« WUMAG auf einem ehemaligen Ziegeleigelände Baracken für die Zwangsarbeiter errichtet hatte. Dann der Todesmarsch von Görlitz weg und wieder dorthin zurück. Am 8. Mai werden Vater und Sohn von der Roten Armee befreit.

Shlomo Graber kann strahlen. Über das ganze Gesicht. Gibt es Gelegenheiten dafür, lässt er keine davon aus. Die Geschichte von dem Läuserennen, das man im Lager veranstaltet hat, hellt das Gesicht ein wenig auf. Die jungen Zuhörer lockern sich verhalten auf ihren Stühlen. Dann Aufatmen, als das nächste breite Strahlen der Ehefrau gilt, die natürlich in der ersten Reihe sitzt, »mein Glück«, wie Shlomo Graber sie nennt.

1988 hatte er die Schweizerin Myrtha auf einer Geschäftsreise kennengelernt. Und so zog er nach 40 Jahren noch einmal um, von Israel nach Basel. Er begann zu malen und fing an, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, »nicht mehr als eine halbe Stunde am Tag, danach musste ich an die frische Luft«.

fragen Wer genau hört und liest, bekommt mit, was Shlomo Graber bis heute beschäftigt und hellwach hält. Da ist selbstverständlich die Frage nach Gott. Traditionell-orthodox aufgewachsen, »spürte er keinen Gott in diesen Viehwaggons«, seine Frage: »Lieber Gott, warum hast du das zugelassen?«, nimmt den Dialog fordernd wieder auf. In Israel, wo er nach 1948 sieben Jahre lang als Soldat gedient hat, wehrte er sich nicht gegen Vorwürfe an Schoa-Überlebende – »sich nicht gewehrt zu haben«. Heute sagt er: »Was ich bis zum heutigen Tag nicht verstehe: Wir alle schwiegen und gehorchten! Keiner wehrte sich.« Eine mögliche Erklärung liefert ihm der Umstand, der irgendwie alles prägte, »nicht gewusst zu haben, was als Nächstes passiert«.

Ein Mädchen meldet sich, möchte wissen, wie es kommt, dass Shlomo Graber nicht hasst. »Was würde das bringen?«, lautet seine kurze Antwort. »Und die Holocaust-Leugner, was sagen Sie zu denen?« »In einer Demokratie hat vieles Platz, und am Ende wird die Wahrheit siegen«, erwidert er. Zudem beneide er alle jungen Leute hier im Raum: »Ich habe keine Jugend gehabt, aber ihr seid frei.«

Shlomo Graber hat in Israel sechs Enkel und fünf Urenkel, »und bald werden es sieben sein«. Er hat ein Plakat, das ihm einmal eine Zürcher Schulklasse nach seinem Vortrag geschenkt hat. »Von jedem Schüler ist da ein Schmetterling aufgemalt und ein schöner Satz dazu geschrieben.« Für ihn ist dieses Bild ein großer Schatz, den er irgendwann an Yad Vashem weitergeben möchte. Und dann geht er doch noch einmal zurück, zurück in die 60er-Jahre. »Da haben wir uns immer zum 8. Mai getroffen, wir 100 Überlebenden von Görlitz. Heute gibt es nur noch mich.«

Jom Haschoa

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