Ukraine-Krieg

»Helfen ist oberstes Gebot«

Im Auge eines Sturms herrscht Ruhe. Trügerische Ruhe. Ein bisschen fühlt es sich an diesem Freitagvormittag im Gemeindehaus in der Fasanenstraße der Jüdischen Gemeinde zu Berlin an, als sei man in ein solches Auge geraten. Am Vortag hat die Gemeinde hier ein Erstaufnahmezentrum für Jüdinnen und Juden, die vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine flüchten mussten, eröffnet. Milena Rosenzweig-Winter, die Geschäftsführerin der Jüdischen Gemeinde, berichtet, dass bereits am ersten Tag etwa 150 bis 200 Menschen in dem Zentrum versorgt werden konnten.

Doch nun ist es vergleichsweise ruhig in dem Gebäude in Berlin-Charlottenburg. Schilder auf Deutsch, Ukrainisch und Russisch weisen den Weg zum Registrierbüro und zur Ausgabestelle für koscheres Essen im ersten Stock. »Nächstenliebe ist ein Kernelement des Judentums, sich für Menschen in Not einzusetzen, ist unsere solidarische Pflicht«, sagt der langjährige Gemeindevorsitzende Gideon Joffe bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung des Aufnahmezentrums. »Die humanitäre Krise in der Ukraine bedroht die Sicherheit und das Leben aller Menschen dort und verlangt von uns umgehende und tatkräftige Unterstützung«, so Joffe.

Schaukelpferde Was einem sofort ins Auge springt, wenn man die erste Etage betritt, ist eine liebevoll mit Schaukelpferden, Puppen und Spielzeugautos eingerichtete Ecke für die Kleinen. »Die Kinder haben eine lange Reise hinter sich«, erklärt Shelly Schlafstein. »Da ist es wichtig, ihnen hier ein gutes Gefühl zu geben«, fügt die junge Frau an. Sie ist Leiterin des jüdischen Jugendzentrums.

Wie alle haupt- und ehrenamtlichen Helfenden hier trägt sie ein blaues Shirt, um von den Geflüchteten schnell gefunden zu werden. »Für die Eltern ist es eine Erleichterung, wenn die Kinder nach der langen Flucht beschäftigt sind und sie kurz abschalten können«, so Schlafstein. »Die Kinder können malen, basteln und mit Lego spielen.«

»Es ist wichtig, den Kindern ein gutes Gefühl zu geben.«

Shelly Schlafstein, Leiterin des jüdischen Jugendzentrums

Eine Tür weiter liegt der große Saal des Gemeindehauses. In dem riesigen Raum, benannt nach dem von den Nazis ermordeten einstigen Gemeindevorsitzenden Heinrich Stahl, finden sonst Konzerte, Gedenkveranstaltungen, aber auch Familienfeierlichkeiten wie Hochzeiten oder Trauerfeiern statt. »Unser Wohnzimmer«, sagt Gemeindesprecher Ilan Kiesling lachend.

Nun erinnert der Saal eher an eine Kleiderkammer. Die Geflüchteten können sich hier mit warmen Sachen ausstatten. Zwei Mädchen mit blauen Shirts und schwarzen Gesichtsmasken sortieren gerade eine neue Spendenlieferung. Manche der Freiwilligen sind noch ganz jung, andere im Rentenalter.

»Das Wichtigste, was wir derzeit brauchen, sind aber Hygieneartikel«, erklärt ein junger Mann, ebenfalls mit blauem Oberteil. Er stellt sich mit seinem Vornamen vor: Marat. Die Geflüchteten bräuchten am dringendsten Dinge wie Rasierer, Bürsten, Kämme, Nagelscheren, Tampons und Ähnliches. Ansonsten würden der Gemeinde zur Versorgung der Angekommenen Geldspenden am meisten helfen, sagt Marat.

marathonlauf Vollgepackt mit Hilfsgütern kommt auch Berlins Senator für Kultur und Europaangelegenheiten, Bürgermeister Klaus Lederer, in die Fasanenstraße. »Ich bin sehr dankbar für Ihre Unterstützung«, sagt der Linken-Politiker an die Adresse der Gemeindemitglieder. Die Initiative der Gemeinde, ein Erstaufnahmezentrum für jüdische Geflüchtete zu eröffnen, reihe sich ein in die Solidarität der Stadt und sei ein »wichtiger Teil unserer Verantwortung und Hilfe«. Lederer warnt: »Es wird eher ein Marathonlauf als eine Kurzstrecke.« Die größte Herausforderung sei es derzeit vor allem, die Menschen erst einmal sicher und warm unterzubringen.

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin versucht, mit dem Aufnahmezentrum ihren Teil dazu beizutragen. Nach der Registrierung erhalten die Geflüchteten dort von den Gemeindemitarbeitern und Freiwilligen eine koschere Mahlzeit und ein kleines Begrüßungspaket mit Hilfsgütern. Und sie werden in eine temporäre Unterkunft vermittelt. Nicht im Gemeindehaus, dort muss niemand übernachten. Vielmehr hat die Gemeinde von Freiwilligen zur Verfügung gestellte private Unterkünfte und daneben auch viele angemietete Hotelzimmer.

Auch Nichtjuden werde geholfen, sagt Geschäftsführerin Rosenzweig-Winter. »Oberstes Gebot ist, den Notleidenden zu helfen. Natürlich unterstützen wir auch nichtjüdische Geflüchtete.« Sie bekämen eine warme Mahlzeit und, falls nötig, medizinische Versorgung und würden dann an staatliche Stellen weitergeleitet.

Der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe fordert, die Geflüchteten nicht auf ganz Deutschland zu verteilen.

Gemeindevorstand Gideon Joffe sagt, dass es keine genauen Zahlen gebe. Man rechne aber damit, dass etwa 50.000 bis 250.000 Jüdinnen und Juden vor Beginn des Kriegs in der Ukraine gelebt hätten. Von diesen seien bislang etwa 5000 nach Deutschland gekommen, von denen wiederum circa 1500 gleich nach Israel weitergereist seien. Etwa 3500 geflüchtete Juden seien wohl derzeit in Deutschland, von diesen befänden sich einige Hundert in Berlin. Wie viele letztlich in Deutschland bleiben und wie viele noch kommen würden, sei noch völlig unklar.

Gideon Joffe fordert, dass die jüdischen Geflüchteten nicht nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel verteilt werden. Gemäß dieser Übereinkunft werden die Menschen je nach Finanzkraft und Bevölkerungszahl der Bundesländer auf diese verteilt. Joffe hingegen meint, dass die Juden aus der Ukraine in den großen Gemeinden am besten aufgehoben seien, weil dort auch am meisten an jüdischer Infrastruktur vorhanden sei.

Milena Rosenzweig-Winter ist zuversichtlich, dass schon bald geklärt sei, wie genau die vom Zentralrat der Juden mit der Bundesregierung getroffene Vereinbarung über die Aufnahme jüdischer Vertriebener aus der Ukraine umgesetzt werden soll.

hauptbahnhof Gerade erwarte die Gemeinde einen Bus mit mehreren Dutzend Geflüchteten, der von Moldawien aus Berlin ansteuere, berichtet Rosenzweig-Winter. Und am Berliner Hauptbahnhof kommt schon eine halbe Stunde später ein Zug aus Polen an – mit Hunderten Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind und nun dringend ein Dach über dem Kopf benötigen. Das Auge eines Sturms ist oft kleiner, als man denkt.

Kontakt für Freiwillige: Tel. 030/880 28-169, E-Mail: freiwillige@jg-berlin.org; das Aufnahmezentrum ist erreichbar unter 030/880 28-0, E-Mail: ukraine-hilfe@jg-berlin.org
Spendenkonto: Jüdische Gemeinde zu Berlin, Bank für Sozialwirtschaft,
IBAN: DE12 1002 0500 0003 1424 50

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025

Berlin

Margot Friedländer Preis wird verliehen

Die mit insgesamt 25.000 Euro dotierte Auszeichnung gehe an Personen, die sich für Toleranz, Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie einsetzen

 15.09.2025

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  14.09.2025

Hamburg

»An einem Ort getrennt vereint«

In der Hansestadt soll die Bornplatzsynagoge, die in der Pogromnacht von den Nazis verwüstet wurde, wiederaufgebaut werden. Ein Gespräch mit dem Stiftungsvorsitzenden Daniel Sheffer über Architektur, Bürokratie und Räume für traditionelles und liberales Judentum

von Edgar S. Hasse  13.09.2025

Meinung

»Als Jude bin ich lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Berlin«

Andreas Tölke verbringt viel Zeit in Kyjiw und Odessa – wo man den Davidstern offen tragen kann und jüdisches Leben zum Alltag gehört. Hier schreibt er, warum Deutschland ihm fremd geworden ist

von Andreas Tölke  13.09.2025

Porträt der Woche

Das Geheimnis

Susanne Hanshold war Werbetexterin, Flugbegleiterin und denkt über Alija nach

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.09.2025