Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

»In der Diaspora sucht man nach etwas, was uns verbindet«: Rachel Bendavid-Korsten (76) lebt in Berlin. Foto: Rolf Walter

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024 12:04 Uhr

In Rabat, der Hauptstadt Marokkos, wurde ich 1948 geboren. Bis dahin waren alle marokkanischen Könige von jüdischen Leuten umgeben, die für sie gearbeitet haben. Auch heute noch hat der König mit André Azoulay einen jüdischen Berater. Trotzdem hatten die Juden vor allem nach dem Unabhängigkeitskrieg Israels Angst, dass dem König etwas passieren könnte, und dann wären sie dran. Jedes Mal, wenn Israel in einen Krieg verwickelt war, wurden nämlich die jüdischen Geschäfte attackiert.

Im Jahr 1962 gab es dann eine große Welle marokkanischer Juden, die nach Israel auswanderten. Auch meine ganze Familie hat damals das Land verlassen. Dabei habe ich selbst nur positive Erinnerungen an meine Kindheit, denn wir hatten sehr gute Beziehungen zu unseren arabischen Nachbarn. Mein Vater besaß einen kleinen Vulkanisierbetrieb, und einige arabische Marokkaner haben für ihn gearbeitet. Mit Arabisch und Französisch wuchs ich zweisprachig auf. An der jüdischen Grundschule lernte ich dann auch noch Hebräisch.

Über Spanien und Süditalien nach Israel

Als ich 14 Jahre alt war, hatten meine Eltern für die Familie Pässe beantragt. Offiziell deshalb, um eine Reise nach Spanien zu unternehmen. Eine zionistische Organisation hat die Alija organisiert, aber es war nicht ganz einfach. Nach einer Woche in Spanien hat man uns nach Gibraltar gebracht, von dort aus ging es mit dem Flugzeug nach Süditalien und nach einer weiteren Woche mit dem Boot nach Haifa.

Warum wir so umständlich reisen mussten, weiß ich nicht. Immerhin gehörten meine Eltern zu jenen, die in Marokko einen Pass bekommen hatten. Das war nicht allen Juden vergönnt. Viele sind auf solche Boote gestiegen, wie es heute afrikanische Flüchtlinge tun, und haben versucht, übers Mittelmeer nach Spanien zu kommen.

Zunächst mussten wir zu zehnt in einer Einzimmerwohnung leben.

Als wir nun in Israel ankamen, war das bei mir mit großen Erwartungen verbunden. Aber als wir in Haifa an Land gingen, hat dort niemand auf uns gewartet. Meine Schwester, die zwei Jahre zuvor mit einer Tante von uns angekommen war, lebte in Jerocham. Sie wusste nicht, wann wir ankommen würden.

In einem Brief hatte sie uns gewarnt, uns auf gar keinen Fall in dieses verlassene Nest am Rande der Negevwüste schicken zu lassen. Vielmehr sollten wir auf Beer Sheva als Wohnsitz bestehen, das sei die nächstgelegene Großstadt. Das hat auch geklappt. Jedoch hatte man dort für meine Familie, das waren immerhin sieben Kinder, meine Eltern und die Oma, zunächst nur eine Einzimmerwohnung in einem Reihenhaus. Glücklicherweise gehörte ein kleiner Garten dazu, sodass wir tagsüber die Zeit draußen verbringen konnten.

Die Nachbarn kamen, um zu sehen, was wir brauchten

Das Schöne war, dass die Nachbarn kamen, um zu sehen, was wir brauchten. Einer kam mit Decken, jemand anderes brachte Kopfkissen und so weiter. Meine Mutter hat in der ersten Nacht sehr geweint. Schließlich hatten wir in Marokko ein Haus mit sieben Zimmern, und nun konnte sie sich in diesem einen Raum kaum bewegen. In der ersten Nacht hat sie aber auch geträumt, dass ein Engel zu ihr kam und sagte: »Schäm dich, von Eretz Israel enttäuscht zu sein!«

Am nächsten Morgen erzählte meine Mutter von diesem Traum und versprach, nie wieder undankbar zu sein. Drei Monate später bekamen wir die größte Wohnung von Beer Sheva: drei Zimmer auf 54 Quadratmeter. Deshalb kamen an den Feiertagen die Verwandten aus Jerocham und aus anderen Orten zu uns. So waren damals die Verhältnisse in Israel.

Man hatte meinen Eltern empfohlen, meinen Bruder und mich auf ein Internat zu schicken, wovon es in Israel einige gab. Dort blieb ich drei Jahre. Diese Zeit gehört zu den schönsten Jahren meines Lebens. Wir Jugendlichen waren einen halben Tag in der Schule, und danach haben wir gearbeitet. Es war ein landwirtschaftliches Internat – organisiert wie ein Kibbuz, aber ohne Familie. Es waren aschkenasische, sefardische, auch jemenitische Jugendliche, und wir haben uns alle prima verstanden, ohne irgendwelche Vorbehalte. Wir waren füreinander da, es war ein schönes Leben.

Danach habe ich in Beer Sheva eine Ausbildung zur Grundschullehrerin gemacht. Nachdem ich einige Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte, wurde ich von der Sochnut, der Jewish Agency for Israel, nach Brüssel entsandt, um dort an einer jüdischen Schule Hebräisch und Religion zu unterrichten. Schließlich sprach ich fließend Französisch, weshalb ich im Alltag gut klarkam. Der Aufenthalt dort war für zwei Jahre vorgesehen.

Ich hatte eine Cousine, die in Haifa gewohnt hat. Ich hingegen lebte in Beer Sheva. Und wenn wir uns treffen wollten, lag Tel Aviv in der Mitte. Eines Tages kamen wir mit Leuten in Kontakt, die an der deutschen Botschaft arbeiteten. Während meiner Zeit in Brüssel reiste ich dann mehrfach nach Berlin, wo einige dieser Bekannten wohnten. Zum ersten Mal war ich 1974 da, als Berlin noch eine geteilte Stadt war.

Als meine Zeit in Brüssel vorbei war, zog ich nach Berlin, um Deutsch zu lernen

Als meine Zeit in Brüssel vorbei war, zog ich nach Berlin, um Deutsch zu lernen. Hier gab es eine jüdische Gemeinde, was für mich etwas Fremdes war. Aus Israel kannte ich so etwas nicht, und deshalb war das auch nicht meine erste Anlaufstelle in Berlin. In Beer Sheva hatte mir eine Frau, deren Bruder in Berlin Arzt war, empfohlen, mit ihm Kontakt aufzunehmen.

Durch ihn lernte ich den Leiter des Labors des Jüdischen Krankenhauses kennen, der eine Mitarbeiterin als Schwangerschaftsvertretung suchte. Er sagte, er würde mir alles beibringen. Also wurde ich angelernt, und schon bald habe ich auch Nacht- und Wochenenddienste ganz allein gemacht. Als die Frau, an deren Stelle ich arbeitete, zurückkam, war eine andere Mitarbeiterin erkrankt, und ich wurde wieder gebraucht. Irgendwann habe ich dann einen festen Vertrag bekommen.

Ein neuer Laborleiter hat mich gefragt, warum ich kein Mitglied in der Jüdischen Gemeinde sei. Durch ihn bin ich in die Synagoge Pestalozzistraße gekommen, wo ich den Kantor Estrongo Nachama hörte. Das war wie ein Konzert für mich. Es mag ungewöhnlich klingen, aber ich habe mich sofort in diese für eine Nordafrikanerin ungewohnte Musik verliebt.

Fortan besuchte ich hier regelmäßig die Gottesdienste, wurde schließlich Mitglied der Gemeinde und arbeitete aktiv bei WIZO mit. Das Leben hatte sich für mich dadurch sehr verändert. Denn in Marokko gingen Mädchen nicht in die Synagoge, und in Israel mussten wir nur im Internat am Schabbat zum Gottesdienst. In der Diaspora aber sucht man ein Zuhause und nach etwas, was uns verbindet. Das fand ich in der Gemeinschaft dieser Synagoge.

In der ersten Zeit unterrichtete ich noch neben meiner Tätigkeit im Labor.

Eines Tages hörte ich, dass an der Grunewald-Grundschule die Stelle der Religionslehrerin für die dortige jüdische Schülerschaft bald vakant sein würde. Damals gab es ja in Berlin noch keine jüdische Grundschule. Ich sprach mit Rabbiner Stein, dass mich diese Tätigkeit interessieren würde. Es dauerte eine ganze Weile, ehe man sich bei mir meldete. Plötzlich war es ganz eilig. In der ersten Zeit unterrichtete ich noch neben meiner Tätigkeit im Labor. Mehrmals hatte ich meine Arbeitszeit dort reduziert. Nach etwa drei Jahren habe ich nur noch als Lehrerin gearbeitet – an der Schule, in der Gemeinde, und manchmal habe ich vertretungsweise an der Jüdischen Volkshochschule Hebräisch unterrichtet.

Meinen Mann habe ich im Jüdischen Krankenhaus kennengelernt

Meinen Mann habe ich im Jüdischen Krankenhaus kennengelernt. Ich arbeitete schon einige Zeit dort, als beschlossen wurde, dass unser Labor einen engeren Kontakt zur Röntgenabteilung haben sollte. Damit die beiden Abteilungen einander kennenlernen, wurde ein gemeinsamer Kegelabend organisiert, und da tauchte auch er, ein Radiologe, auf. Er fuhr mich an diesem Abend mit seinem Wagen nach Hause, und in der Folgezeit kamen wir einander näher.

Mittlerweile sind wir seit vielen Jahren miteinander verheiratet. Mein Mann ist nicht jüdisch, aber wir haben nie über eine Konversion gesprochen. Meine Eltern, obgleich sie aus einer traditionellen sefardischen Familie stammen, haben ihn geliebt wie einen eigenen Sohn. Mit ihm gemeinsam feiere ich die jüdischen Feiertage, und ich kann uneingeschränkt mein Judentum leben. Es gab sogar immer wieder Momente, in denen er mich darin geradezu bestärkt hat.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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