9. November

Gegen Geschichtsvergessenheit

Das Alte Rathaus, urkundlich im Jahr 1310 erstmals erwähnt, im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach originalgetreu wiederaufgebaut, ist Teil der Münchner Stadtgeschichte. 1669 hat der Landtag dort residiert, 1805 fand hier die erste Pockenschutzimpfung statt, im 18. und 19. Jahrhundert wurden in dem historischen Bauwerk die Lottozahlen gezogen, und 1848 fand an diesem Ort die Wahl der Münchner Abgeordneten für die Nationalversammlung statt.

Das dunkelste Kapitel in der Geschichte des Alten Rathauses wurde am 9. November 1938 geschrieben. An diesem Tag setzten Adolf Hitler und Joseph Goebbels von hier aus die Pogromnacht in Gang.

Fast 1000 Münchner Juden wurden in dieser Nacht verhaftet und ins KZ Dachau verschleppt.

Nach der pandemiebedingten Verlegung ins Internet im vergangenen Jahr konnte die Gedenkfeier diesmal wieder im Alten Rathaus stattfinden. Gewidmet war sie insbesondere den nahezu 1000 jüdischen Frauen, Männern und Kindern, die am 20. November 1941 den ersten von München ausgehenden Deportationszug besteigen mussten. Sie wurden in die Nähe von Kaunas (Litauen) transportiert und sofort nach ihrer Ankunft ermordet.

Auf die besondere Bedeutung, die der sogenannten Kristallnacht am 9. November 1938 zukommt, ging bei der Gedenkfeier Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) ein: »Die Pogromnacht markierte den Übergang von der Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bis hin zu deren offener und systematischer existenzieller Vernichtung.«

hilfe In seiner Rede beschäftigte sich das Stadtoberhaupt mit einem speziellen Aspekt der Pogromnacht. Fast 1000 Münchner Juden wurden an diesem Datum von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager nach Dachau verschleppt. Auf die Hilfe ihrer nichtjüdischen Freunde und Bekannten hätten sie damals nicht zählen können. »Die meisten haben einfach zugeschaut, bisweilen in die Hetzgesänge mit eingestimmt oder sich im schlimmsten Fall sogar aktiv an den Zerstörungen und Brandschatzungen beteiligt«, sagte Reiter.

Das Gefühl, nicht vorbehaltlos auf Beistand zählen zu können, sei für Juden kein abgeschlossenes Kapitel aus der Vergangenheit, sondern auch heute wieder präsent. Die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft, wie sie sich etwa nach dem Anschlag von Halle dargestellt habe, erlahme auch wieder sehr schnell, erklärte der Oberbürgermeister. Die Gedenkstunde zum 9. November diene deshalb nicht nur dazu, die historische Verantwortung vor Augen zu führen. Sie sei auch als Manifestation der klaren Absicht anzusehen, Judenhass entschlossen zu begegnen, sagte Reiter. Jüdische Menschen nie wieder im Stich zu lassen, bezeichnete er als »heiliges Versprechen«.

Tief bewegende Momente setzte bei der Gedenkfeier die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch. Sie schilderte, wie sie die Pogromnacht als sechsjähriges Kind an der Hand ihres Vaters miterleben musste, die Attacken auf jüdische Menschen genauso wie die Zerstörung der orthodoxen Ohel-Jakob-Synagoge. Ihre Erlebnisse während der NS-Zeit, die sie nur mit viel Glück überlebte, hätten es ihr nach 1945 sehr schwer gemacht, noch einmal Vertrauen in Deutschland zu fassen. »Für mich war damals unvorstellbar«, beschrieb sie ihre Empfindungen, »dass aus diesem Land, das physisch und moralisch in Trümmern lag, je eine Heimat werden könnte – nicht nur, aber ganz besonders für jüdische Menschen.«

versprechen Möglich gemacht hätte es dann jedoch das staatliche Versprechen des »Nie wieder« und der unantastbaren Menschenwürde. Zugleich stellte Knob­loch aber auch fest, dass dieses Prinzip heute nicht mehr in der gleichen Weise selbstverständlich sei wie in den ersten Jahrzehnten der Demokratie. Bedroht werde dieses funktionierende System nicht mehr nur von Verwirrten an den gesellschaftlichen und politischen Rändern, sondern »von Überzeugungstätern mitten in der Herzkammer der Demokratie, in unseren Parlamenten«. Charlotte Knob­loch nannte in diesem Zusammenhang namentlich die AfD, die dafür sorge, dass eine alte Angst in die jüdische Gemeinschaft zurückkehre.

Die Namenslesung war den nach Kaunas Deportierten gewidmet.

Historische Filmaufnahmen der Nazis, die im Stadtarchiv aufbewahrt werden, verwendete Kim Wünschmann, die Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, zur Illustration ihres Vortrags »Bewegte Bilder der Zerstörung jüdischen Lebens. Vom Abbruch der Münchner Hauptsynagoge zum Novemberpogrom 1938«. Die Wissenschaftlerin ging auf die Verbindung beider Ereignisse ein. »Erinnern heißt Handeln, und es ist unsere Aufgabe, den Kampf gegen Geschichtsvergessenheit weiter zu führen«, lautete ihr Fazit am Ende des Vortrags.

Öffentlich zugänglich war in diesem Jahr auch wieder die Namenslesung am Gedenkstein der ehemaligen Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße, die diesmal den nach Kaunas deportierten Juden gewidmet war. An der Lesung beteiligten sich unter anderem Kulturreferent Anton Biebl, Polizeivizepräsident Michael Dibowski, Barbara Distel, die ehemalige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Landtags-Vizepräsident Karl Freller (CSU) und Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums. Danny Bassan war eigens aus Israel angereist, um an der Namenslesung teilnehmen zu können. Seine Mutter, die kurz vor der Deportation als 18-Jährige nach Palästina ausreisen durfte, war die einzige Überlebende der Familie Rosenbusch.

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