München

Gedenken auf Augenhöhe

Auch die Erinnerungskultur der Stadt München litt unter den Corona-Bedingungen. Nur vereinzelt und häufig mit langen Pausen dazwischen konnten Erinnerungszeichen zum Gedenken an Opfer des Natio­nalsozialismus angebracht oder errichtet werden. Das hat sich inzwischen geändert. Seit Ende Juni wurden bereits acht Tafeln und Stelen enthüllt.

Diese Stelen mit Fotos und persönlichen Daten oder entsprechende Tafeln an Hauswänden hielt der Münchner Stadtrat nach langen und intensiven Diskussionen für eine bessere, vor allem würdigere Form der Erinnerungskultur als die Verlegung von »Stolpersteinen« im Boden. Auch Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hatte sich im Lauf der Diskussion eindeutig positioniert und in der Stadt ein »Gedenken auf Augenhöhe« gefordert.

bedeutung Auf die Bedeutung des Gedenkens mit Blick auf das persönliche Umfeld der Opfer ging Charlotte Knob­loch bei der nur wenige Wochen zurückliegenden Enthüllung eines Erinnerungszeichens am Haus in der Tengstraße 26 in Schwabing ein: »Durch die Tür dieses Hauses gingen Menschen, die mit Würde und Rechten geboren waren und denen ein Staat, der den Hass zur Staatsräson erhoben hatte, fast alles nahm. Er entrechtete und drangsalierte sie, verfolgte, beraubte, verschleppte und ermordete sie.«

Ein »tatkräftiges Gedenken« sollte nach ihrer Ansicht viel häufiger stattfinden sowie im Alltag wesentlich lebendiger und präsenter sein. Hilfreich sei es in diesem Zusammenhang, wenn dafür die geeigneten Orte gewählt würden, wie etwa die Wohnorte der Opfer. »Das Gedenken«, so stellte Charlotte Knobloch fest, »muss die Erinnerung an die ehemaligen Nachbarn ganz besonders dort wachhalten, wo sie auch Nachbarn waren.«

Ihre Lebensgeschichten sind völlig unterschiedlich, nur in einem Punkt waren sie identisch: Sie alle waren Juden und mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen.

Auf der Tafel, die am Haus in der Tengstraße 26 angebracht wurde, stehen fünf Namen: Fanny und Julius Bär, Fanny Holzinger, Franziska Schlopsnies und Emilie Schwed. Ihre Lebensgeschichten sind völlig unterschiedlich, nur in einem Punkt waren sie identisch: Sie alle waren Juden und mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen.

rückzugsort Wie wichtig indes die eigenen vier Wände wurden, als die Menschenverachtung gegenüber Juden als zentraler Bestandteil des nationalsozialistischen Regimes immer mehr zunahm, machte Knobloch beim Gedenk­akt deutlich. »Die Hetze, Beleidigungen und den Spießrutenlauf des Alltags dort hinter sich lassen zu können, einen Rückzugsort zu finden, war ungemein wichtig«, beschreibt sie einen Zustand, den sie als Kind noch selbst miterleben musste. Und sie wies darauf hin, dass dies überhaupt nur noch in den ersten Jahren des NS-Regimes möglich war.

Beim Start des »Erinnerungszeichen«-Projekts hatte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter betont, dass mit der Initiative die Verpflichtung der Stadt für das viel beschworene »Nie wieder!« verbunden sei. Und auch Charlotte Knobloch sprach nun in Zusammenhang mit der erstarkenden rechten Szene einen politischen Aspekt an.

Gedenken versteht sie als »Rüstzeug« im Kampf um Freiheit und Demokratie. »Wenn wir diese Rüstung ablegen«, hatte sie einmal bei früherer Gelegenheit und aus Anlass der Enthüllung eines Erinnerungszeichens bemerkt, »berauben wir uns freiwillig der schärfsten Waffe, die wir gegen die in der Hand haben, die den Hass erneut zur Richtschnur machen wollen. Und gegen die, denen die Menschenwürde heute so gleichgültig ist, wie sie es dem NS-Staat damals war. Nur die Erinnerung hilft uns dabei.«

freiheit Zudem hatte Charlotte Knob­loch in letzter Zeit vermehrt auf einen weiteren, für sie persönlich besonders bedeutsamen Aspekt hingewiesen: Verantwortung für Freiheit und Demokratie kenne kein Alter und keine Religion. Es sei vielmehr so, dass der Staffelstab der Erinnerung von jedem angenommen und auch weitergereicht werden müsse. »Glücklicherweise tun das immer mehr Menschen – und auch immer mehr jüngere«, sagte sie.

Verantwortung für Demokratie kenne kein Alter und keine Religion, sagte Charlotte Knobloch.

Zu diesen jungen Menschen gehören auch die Schüler Elsa und Franz. Sie waren die Initiatoren für die Anbringung der Gedenktafel in der Tengstraße. »Wenn sich mehr Menschen so engagieren wie ihr, muss es mir um die Zukunft nicht bange sein«, stellte die IKG-Präsidentin mit Blick auf deren Engagement zufrieden fest.

Die acht Standorte, an denen in diesem Jahr bislang Erinnerungszeichen der Öffentlichkeit übergeben wurden, sind über die ganze Stadt verteilt. Am 8. März wurde die Gedenkstele für die Familie Reinhardt in der Sintpertstraße 15 in Giesing enthüllt, danach herrschte coronabedingt zunächst wieder »Funkstille«.

Erst am 29. Juni ging es mit dem Erinnerungszeichen für Lotte Schwarzschild, Rita Stark und Ruth Wilmersdörfer in der St-Anna-Straße 20 im Lehel weiter. Danach folgten am 5. Juli Curt Moskovitz (Westendstraße 141), am 8. Juli die Tengstraße sowie ein Erinnerungszeichen für Josef Gunzenhäuser (Elisabethstraße 21), genau eine Woche später Ernst Richard Zöbisch (Tulbeckstraße 17), am 21. Juli Franz-Xaver Stützinger (Volkartstraße 71) und in dieser Woche, am 3. August, schließlich Karl Josef Weigang (Gedon­straße 12).

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