Die Familie meiner Mutter hat weißrussische Wurzeln. Ihr Vater, also mein Großvater, amtierte als Rabbiner in einer Kleinstadt. Doch als nach der Revolution 1917 fast alle Synagogen geschlossen wurden, verlor mein Großvater seine Arbeit, und die elfköpfige Familie hatte kaum mehr etwas zu essen. Also zogen sie nach Leningrad. So wurde es mir immer erzählt.
In Leningrad gab es Arbeit, und meine Mutter konnte Literatur studieren. In dieser Zeit lernte sie meinen Vater kennen. Er studierte Geschichte, war Russe – und Kommunist. Die Familie meiner Mutter war deshalb gegen die Ehe. Doch es muss wohl echte Liebe gewesen sein, denn meine Eltern heirateten trotzdem.
Im Juni 1941 begann der Krieg, meine Mutter wurde in den Ural ausgesiedelt, mein Vater musste an die Leningrader Front. Ich selbst wurde am 8. November 1941 in einer Stadt im Ural geboren. Meine Großeltern waren in Leningrad geblieben und erlebten die Blockade. Sie wohnten in der Synagoge. Manchmal brachte mein Vater Brot, das rationiert war. Leider starb er 1942 durch Trümmer, die nach einem Bombenangriff vom Dach der Synagoge fielen.
Als der Krieg zu Ende war, kehrte ich mit meiner Mutter nach Leningrad zurück
Als der Krieg zu Ende war, kehrte ich mit meiner Mutter nach Leningrad zurück. Zuerst wohnten wir bei Großmutter in der Synagoge. In Leningrad ging ich auch zur Schule. Dort lernte ich: Es gibt keinen Gott! Ich schrieb diesen Satz auf kleine Zettel und verteilte sie in der Synagoge.
Später studierte ich Maschinenbau und lernte 1967 meine künftige Frau Vera an der Uni kennen. Sie studierte Halbleiterphysik. Wir hatten dieselben Interessen und einen gemeinsamen Freundeskreis. Wir rauchten und diskutierten über Filme und das Theater.
Am 9. Juni 1994 reisten wir nach Deutschland aus. Das ist bis heute unser Familienfeiertag.
Die Familie meiner Frau stammt aus der Ukraine, ihre Großmutter war religiös. Sie feierte stets Schabbat und buk vor Pessach heimlich Mazze. Für Juden war das Studium nicht überall möglich. Vera war klug und hübsch, und das ist sie noch immer. 1971 heirateten wir im Restaurant des Mariinski-Theaters in Leningrad. Es ist eines der bekanntesten Opern- und Balletthäuser der Welt. In dieses Gebäude passen etwa 2000 Zuschauer. Nur ein Jahr später wurde unsere Tochter Anna geboren und 1981 unser Sohn Michael.
In immer mehr jüdischen Familien wurde die Ausreise diskutiert
Die 90er-Jahre waren sehr schwierig. Die Sowjetunion gab es schon nicht mehr, es regierte Boris Jelzin. In immer mehr jüdischen Familien wurde die Ausreise diskutiert. Amerika, Israel und Deutschland standen zur Debatte. Meine jüngere Schwester hatte einen Westberliner geheiratet. So hatten wir einen gewissen Bezug zu Deutschland. Am 9. Juni 1994 reisten wir aus. Das ist bis heute unser Familienfeiertag.
Wir haben eine gute Beziehung zu meiner Schwester, aber wir wollten unser Leben selbst in die Hand nehmen. Für Deutschland haben wir uns auch wegen unserer Tochter entschieden, die immer in Italien leben wollte. Deutschland liegt näher an Italien als Amerika oder Israel.
Zuerst lebten wir in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb. Dann fanden wir eine Wohnung in Ulm. Als wir nach Deutschland kamen, war unsere Anna bereits 22 Jahre alt. Ihr Fremdsprachenstudium hatte sie in St. Petersburg fast vollendet, aber es wurde hier nur teilweise anerkannt. Dank eines Stipendiums der Otto Benecke Stiftung konnte sie in Stuttgart ihren Abschluss machen.
Michael ging aufs Gymnasium und studierte danach Wirtschaftswissenschaften. Schon mit 17 Jahren fand er zu den Grünen, mit 22 wurde er in den Stadtrat von Ulm gewählt. Er ist Vollblutpolitiker und im Landtag von Baden-Württemberg Sprecher für Wissenschafts-, Hochschul- und Bahnpolitik. Seine jüdische Herkunft hat er nie verheimlicht, und bis zum 7. Oktober 2023 war es den meisten seiner Freunde und Kollegen auch eher egal, dass er Jude ist. Er wurde bis dahin nur wegen seines Einsatzes für die Energie- und Verkehrswende angefeindet. Aber der 7. Oktober hat auch das verändert.
Unsere Familie hält zusammen
Dass sich Michael politisch engagieren würde, war schon früh zu erkennen. Wir sind sehr stolz auf ihn. Er ist wahrscheinlich der erste jüdische Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg. Unsere Familie hält zusammen. Michael ist auch Mitglied in unserer Gemeinde. Unsere Enkeltochter aus Rom studierte unterdessen Sprachwissenschaft in Augsburg, und sie kommt manchmal nach Ulm. Sie liebt Deutschland.
Unser Rabbiner Trebnik in Ulm erinnert mich an meinen Großvater. Als zu Beginn des Ukraine-Krieges die ersten Flüchtlinge nach Baden-Württemberg und damit auch nach Ulm kamen, sagte jemand aus der Gemeinde, man müsse ihnen helfen, sie seien schließlich auch Juden. Unser Rabbiner entgegnete, dass man zuerst Mensch und dann Jude sei.
2012 wurde im Herzen der Altstadt, gleich neben dem berühmten Schwörhaus, die neue Synagoge mit Gebetsraum, Gemeindesaal, Jugendraum, Kindergarten, Bibliothek und Mikwe eingeweiht. Vorher hatten wir nur einen Gebetsraum. Ich denke noch immer sehr gerührt an diesen Tag. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte versprochen, dass jüdisches Leben nie mehr im Stich gelassen werde. Auch der damalige Bundespräsident Joachim Gauck war aus Berlin nach Ulm gekommen. Er sagte, dass er dankbar für jüdisches Leben in Deutschland sei.
Ich bin fünf- bis sechsmal in der Woche beim Morgengebet
Seit ich Rentner bin, engagiere ich mich in der Synagoge und bin fünf- bis sechsmal in der Woche beim Morgengebet. Seit Jahren studiere ich in Kursen die Tora. Die neue Synagoge ist meine große Liebe. So hell und freundlich. Und klimatisiert. An heißen Sommertagen wissen wir das sehr zu schätzen.
Mir gefällt, dass Rabbiner Shneur Trebnik hier eine angesehene Persönlichkeit ist. Die Leser von »SpaZz«, dem lokalen Magazin, haben ihn in die Liste der »111 wichtigsten Ulmer und Neu-Ulmer 2025« auf Platz 27 gewählt. Unser Michael ist übrigens auf Platz 36.
Was ich auch sehr schätze, ist das Ehrenamt meiner Frau. Sie arbeitet für die »Kulturloge Ulm«.
Was ich auch sehr schätze, ist das Ehrenamt meiner Frau. Sie arbeitet für die »Kulturloge Ulm«. Dieser Verein vermittelt Menschen mit geringem Einkommen kostenlose Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen, besonders für Kinder aus Migrantenfamilien, aus Russland, der Ukraine, Serbien, der Türkei oder dem arabischen Raum. Es ist sehr wichtig, dass auch sie in die Oper oder zu Ballettaufführungen gehen können.
Mitunter sagt aber jemand ab. Das tut mir sehr weh; die Eintrittskarten kosten schließlich 30 bis 40 Euro. Vera sucht dann kurzfristig Ersatz. Das ist nicht immer einfach. Manchmal gibt es am Telefon lange Gespräche. Die Leute erzählen ihr halbes Leben. Das ist anstrengend und kostet viel Energie, und Vera ist wirklich sehr beliebt. Aber eine weitere Unterstützung in ihrem Ehrenamt findet sich nicht. Also unterstütze ich sie, so gut ich kann. Manchmal lobt sie mich und sagt, dass ich noch viel Energie habe. Ich bin ja ein bisschen älter als sie. Ich finde, wir sind in Ulm als Familie sehr gut integriert.
Zur Hochzeit unserer Nichte waren wir in Aschkelon
Wir haben Israel zweimal besucht. So waren wir zur Hochzeit unserer Nichte in Aschkelon. Die Stadt wurde jahrelang immer wieder bombardiert. Jede Wohnung hat einen Schutzraum. Eine Cousine von mir lebt in der Nähe von Jerusalem. Wirkliche Sicherheit gibt es nicht. Am 7. Oktober haben die Terroristen der Hamas alles auf ihrem Weg zerstört und viele Menschen getötet. In zwei sehr streng religiösen Kibbuzim, in Sa’ad und Shokeda, hat man, nachdem der Strom ausgefallen war, keine Notgeneratoren angeworfen, weil es gegen das Religionsgesetz wäre. So waren die Tore, die elektrisch betrieben werden, ohne Strom verriegelt, und die Mörder konnten nicht hinein. Das rettete den Bewohnern das Leben.
Unser Sohn ist nach dem 7. Oktober nach Israel geflogen. In mehreren Kibbuzim hat er Familien von Geiseln getroffen. Seither trug er »Diskit«, die Plakette, die an die Geiseln erinnert, an einer Kette um den Hals.
Ich wünsche mir mehr Ruhe in der Welt. Überall. Ich wünsche mir Gesundheit für alle und meine Familie. Woher ich die Kraft für mein Leben habe? Das ist eine schwierige Frage. Aber ich denke, ich bekomme die Kraft von Gott.
Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen