Frau Schramm, erinnern Sie sich noch an Ihre Studienzeit, als Sie Ihren heutigen Mann kennenlernten?
Barbara Schramm: Oh ja, mir begegnete damals in Gdansk ein deutscher Austauschstudent, der zwei magische Sätze hinterließ. Der erste: »Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.« Ich musste diesen Satz Dutzende Male wiederholen, habe ihn sofort gelernt, so wie diesen: »Raum für alle hat die Erde, warum verfolgst du meine Herde?« Das waren ausschlaggebende Worte. Ich war damals schon im vierten Studienjahr und von Reinhard sehr beeindruckt. Wir haben uns dann ein halbes Jahr nicht gesehen, aber ich habe an diesem Abend in mein Tagebuch geschrieben: »Das wird mein Mann.«
Reinhard Schramm: Ich war auch angetan, es war wohl »Liebe auf den ersten Blick«. Mein Polnisch war noch nicht so perfekt, um alle Gefühle auszudrücken. Aber ich dachte: »Ja, so eine Frau!« Und warum diese Sätze? Vor allem der zweite: »Raum für alle hat die Erde, warum verfolgst du meine Herde?« von Friedrich Schiller aus »Der Alpenjäger«. Das habe ich damals gelesen, es waren nicht die üblichen Gedanken eines 18- oder 19-jährigen FDJlers, eines jungen Sozialisten, der ich war. Ich hatte kein direktes Verhältnis zur jüdischen Religion. Meine Mutter hatte aufgehört, religiös zu sein, obwohl sie als Kind jüdisch erzogen worden war. Das lag an unserer Familiengeschichte. Wenn ich nach Gott fragte, mit acht oder neun Jahren, sagte sie: »Reinhard, wo war denn Gott, als alle vernichtet worden sind?« Es gibt Sätze, die haben mich sehr geprägt. Das war einer davon.
Er bedeutet: Sie hatten keine Familie.
Reinhard Schramm: Das war mir klar, seit ich zwölf Jahre alt war: Die Familie ist nicht vollständig, keine Tanten, keine Onkel. Mein Vater hat meine Mutter gerettet. Er ist jedoch bald gestorben.
Da waren Sie gerade vier Jahre alt …
Reinhard Schramm: Ich habe mich nur gewundert, dass der liebe Gott für uns nicht die Bedeutung hat, denn die anderen Kinder gingen in die Christenlehre. Später habe ich mich um die Familiengeschichte gekümmert und Briefe aus den Konzentrationslagern gefunden. Meine Verwandten haben einmal im Monat aus Ravensbrück und Neuengamme an eine Person schreiben können. Sie schrieben an meine Mutter, mein Vater hob die Briefe auf.
Frau Schramm, wie war Ihre Familie?
Barbara Schramm: Ich hatte sieben Geschwister, wir waren eine große Familie, vielleicht war sie ein wenig Ersatz für Reinhard. Ich habe damals in Gdansk studiert, geboren bin ich in Litauen. Meine Eltern wurden mit drei Kindern aus der Nähe von Vilnius in den Westen umgesiedelt in Ortschaften, aus denen die Deutschen vertrieben worden waren. Meine Familie war einen Monat mit Viehwaggons unterwegs. Auf der einen Seite die Kühe im Stroh, auf der anderen wir. Ohne die Kühe hätten wir sonst nicht überlebt. Ich sage immer: Wäre ich nicht umgesiedelt worden, wäre ich heute nicht hier. Es gibt das Gute im Bösen und das Böse im Guten. Deshalb sind manchmal die Dinge im Leben auch so kompliziert. Wie heute auch.
Reinhard Schramm: Ich kam zu DDR-Zeiten als Student nach Polen, habe mich nach rund einem Jahr wie ein polnischer Student gefühlt – in einer Umgebung, die für mich eine schöne werden sollte.
Barbara Schramm: Man lebte damals auch in einer Blase – so als Student. Ich habe in einer Studentenredaktion gearbeitet, Theaterpremieren organisiert. Alles Politische war außen vor; die ganze Zeit wurde eher ausgeblendet bis die Judenverfolgung Thema wurde – nach dem Sechstagekrieg 1967.
Sie haben Ihre Familie noch in Polen gegründet, drei Kinder bekommen, im Laufe der Jahre viel aushalten müssen.
Barbara Schramm: Wir haben noch während des Studiums geheiratet. Unser ältester Sohn Marek wurde 1968 in Gdansk geboren. Wir hatten immer gute Beziehungen zu Polen. Wir sind oft hingefahren, meine Schwester, mein Bruder – sie waren in den 80er-Jahren in der Solidarność. Dort ging auch Marek mit zu den Veranstaltungen. Später in der Schule in Ilmenau hat er einmal gefragt: »Was ist Heimat? Ist es dort, wo man geboren wurde, oder dort, wo man lebt?« Reinhard hat ein Schreiben von der Schule bekommen, warum Marek solche Fragen stellt. Die Lehrerin hatte gesagt: »Sei froh, dass du hier lebst. In Polen hättest du nichts zu essen.«
Herr Schramm, wie wichtig ist Ihnen – bei aller Politik – trotzdem die Liebe?
Reinhard Schramm: Ich bin seit 58 Jahren glücklich verheiratet. Das ist ein großer Halt für mich, weil ja auch sonst keine Familie da war auf meiner Seite. Aber immer hat es auch die Situation gegeben, sich aufgrund der Familiengeschichte zu positionieren. Zum Beispiel, als Wolf Biermann die DDR verlassen musste, ausgebürgert wurde. Da habe ich gesagt: »Der Biermann, dessen Vater als Jude in Auschwitz umgekommen ist, der hätte Platz in meinem Haus. Wieso soll er dann nicht Platz in meinem Land haben?« Insofern hat mich das schon immer beschäftigt. Ich glaube, was das Rückgrat anbelangt, das hatte ich in der Zeit nicht, sonst wäre ich intensiver aufgestanden. Mein Sohn Marek und meine Frau haben da wahrscheinlich mehr Rückgrat gehabt.
Waren die beiden kämpferischer?
Reinhard Schramm: Ich denke ja, ich will das nicht analysieren. Die Haltung zur Familiengeschichte, gegen Faschismus und die anfängliche Sympathie für den Sozialismus sind bei mir bis heute geblieben.
Barbara Schramm: Deine Überzeugungen wurden auch auf eine harte Probe gestellt. In einem großen Unternehmen wurde ihm von der Partei nahegelegt, sich von mir scheiden zu lassen. So wie damals, als man seinem Vater im Faschismus nahelegte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen. Da begann ein Umdenken. Auch als unser Sohn 1986 versuchte, über Ungarn erstmals aus der DDR zu fliehen. In Budapest wurde er verhaftet, er hat einen Prozess bekommen, Bewährungsstrafe. Er durfte nicht studieren, kein Abi machen, hat Werkzeugmacher gelernt. Später hat er es noch ein zweites Mal versucht, er scheiterte wieder. Ich habe ihn dann in der Haft besucht und begonnen, nach der Struktur zu fragen: Faschismus und Sozialismus. Sind sie vom Wesen her gleich? Das beschäftigt mich bis heute.
Herr Schramm, was ist Ihr großes Glück?
Reinhard Schramm: Mein großes Glück ist, dass ich froh bin, eine gute Mutter zu haben, die dafür gelebt hat, dass es mir einmal besser gehen sollte, und dass ich einen Vater hatte, den ich kaum kannte, der aber in der sogenannten Mischehe meine Mutter geschützt hat – zumindest bis 1944. Dann hat uns eine kommunistische Familie aus Weißenfels geholfen, indem sie uns in den letzten Kriegsmonaten versteckte. Ich bin sehr glücklich, weil ich Familie zu schätzen gelernt habe. Dass ich meine Frau kennengelernt habe und dass wir jetzt 58 Jahre verheiratet sind, ist großes Glück. Ich wünschte, meine Kinder hätten das auch. Meine Frau und die Kinder sind das Wesentliche. Was mich persönlich sehr bewegt hat, war, als ich mit zwölf, 13 Jahren den Karton meines Vaters mit den KZ-Briefen fand und diese lesen konnte – auch die von der Enteignung, der Arisierung der Schuhfabrik, die meine Großeltern hatten. Da habe ich meine Mutter gefragt: »Wir könnten doch nach Westdeutschland? Da bekommen wir Entschädigung.« Ich werde nie vergessen, wie sie sagte: »Wir brauchen keine Fabrik, wenn wenigstens mein Bruder das KZ überlebt hätte.« Das war für mich bestimmend. Für mich war es wichtiger, in der DDR mit meiner Mutter zu leben, als materielle Werte. Ich passte anscheinend mit meiner Geringschätzung materieller Werte auch ganz gut in die DDR.
Wie war es für Ihre polnische katholische Familie, als plötzlich ein deutscher Student in Ihr Leben trat, Frau Schramm?
Barbara Schramm: Meine Familie war begeistert. Er konnte gut Polnisch. Es gab aber unter meinen Freunden auch lange Zeit Skepsis. Nachdem sie ihn kennengelernt hatten, waren alle begeistert, weil er auch witzig war. Der jüdische Witz! Er konnte aus jeder Situation etwas Humorvolles ziehen. Wir lachten, und es war sofort besser. Seit dem 7. Oktober 2023 ist das anders.
Wie gelingt es trotzdem, dem Leben etwas Positives abzugewinnen?
Barbara Schramm: Ich freue mich, dass er bis heute so aktiv ist, und unterstütze sein Engagement. Wir sind Partner. Man muss sich aufeinander verlassen können, Glück erarbeiten. Was schwingt mit bei uns? Christentum und Judentum, Gefühl und Logik. Die Welt besteht nur, weil sie auf den Gegensätzen beruht. Alles ist Struktur. Ich beschäftige mich damit, lese viel, schreibe. Das gibt mir Halt.
Wie gelang es Ihnen, auch schwierige Situationen zu meistern?
Barbara Schramm: Die Zeit in der DDR ist für jene, die sie nicht erlebt haben, schwer zu verstehen. Ich habe zunächst unserem jüngsten Sohn Sebastian beigebracht: »Du musst immer sagen, was du denkst. Auch in der Schule.« Das war später, nach Mareks Erfahrungen und Haft, anders: »Nur zu Hause sag die Wahrheit!« Und das war für mich das Wichtigste: Zusammenhänge erkennen und wissen, warum, wie alles zusammenhängt.
Was macht Ihr Zusammenleben aus?
Barbara Schramm: Es wäre gelogen zu sagen, wir hatten keine Krisen. Wir haben die Krisen gemeistert. Wir haben gesagt: Es gibt ein Fundament. Und alles andere war Überbau. Wir sind immer zu dieser Basis gekommen. Das sage ich auch unseren Kindern. Man soll kämpfen.
Reinhard Schramm: Als Ingenieur war ich es gewohnt, dass alles am Ende auch ein konkretes Ergebnis hat. Das habe ich gedacht, auch für meine politische Arbeit. Da habe ich vielleicht versagt. Ich bin nicht zu den Antworten gekommen, die ich brauche, um die Mehrheitsgesellschaft zu überzeugen, anständig zu werden.
Sie sind katholisch, Frau Schramm, Sie jüdisch, Herr Schramm: Feiern Sie Festtage gemeinsam?
Barbara Schramm: Ich glaube an Gott, gehe aber erst dann in die Kirche, wenn ich allein sein kann, nicht zu den Gottesdiensten. Ich denke, es gibt Gott, eine Art Sonne, und diese scheint für alle Menschen. Für alle!
Reinhard Schramm: Ich habe versucht, meine Kinder zu Feiertagen in die Synagoge, in unser Gemeindezentrum mitzunehmen. Es war immer mein Anliegen, dass Kinder und Enkel unsere komplizierte Familiengeschichte kennen, sich dann auch positionieren können und ihre eigenen Lehren daraus ziehen in Zeiten des ungehemmten Antisemitismus.
Barbara Schramm: Als ich ihn kennengelernt habe, wusste ich nicht, dass er jüdische Wurzeln hat. Und als ich es dann wusste, war für mich klar, dass ich nicht darauf bestehen würde, dass meine Kinder katholisch erzogen werden. Ich finde, Religion gibt einen bestimmten Halt in schwierigen Situationen, und man braucht dann einen Zugang.
Reinhard Schramm: Durch meine Familiengeschichte bin ich sehr nachdenklich geworden. Für mich ist es ein großes Anliegen, dass die jüdische Sicht verstanden wird, sodass ich meinem Enkel Briefe schicke oder Artikel, nach dem Motto: Opa muss nicht recht haben, aber ich darf nicht schweigen.
Barbara Schramm: Das weiß ich auch zu schätzen. Unser Enkel ist 18, und ich glaube, er hat viel mitbekommen.
Haben Sie ein Geheimrezept für Ihre Ehe?
Barbara Schramm: Man muss sich selbst treu bleiben, das ist das Allerwichtigste. Wenn man sich selbst nicht treu ist, kann man auch in einer Partnerschaft nicht ehrlich sein. Und das Zweite sind Kompromisse. Ohne Kompromisse funktioniert es nicht. Nach einem Streit haben wir uns fünf Minuten später hingesetzt und uns unterhalten.
Reinhard Schramm: … in der Familie ist mir das, glaube ich, gelungen. In meiner Haltung in der Gesellschaft hätte ich früher mehr Rückgrat zeigen können …
Barbara Schramm: … sei doch nicht so selbstkritisch …
Reinhard Schramm: Manchmal frage ich mich, ob es wieder normales jüdisches Leben geben wird, wie es einst war. Ob es gelingt, weiß ich nicht. Und wenn es in manchen Städten nicht gelingt, dann war es dennoch nicht umsonst, dass wir uns gekümmert haben, jüdische Geschichte zu zeigen.
Mit der studierten Architektin und dem Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen sprach Blanka Weber.