Nürnberg

»Einfach so. Auf Augenhöhe«

IKG-Vorsitzender Jo-Achim Hamburger (l.) und Oberbürgermeister Marcus König (r.) planen ein Zukunftsprojekt für Nürnberg. Foto: Getty Images/iStockphoto

Herr Hamburger, Herr König, Sie planen zusammen ein bislang einzigartiges Projekt in Nürnberg – ein Begegnungszentrum zwischen Juden und Nichtjuden. Auf wessen Initiative geht die Idee zurück?
Jo-Achim Hamburger: 2019 habe ich im Zusammenhang mit unserer Gedenkveranstaltung zur sogenannten Reichspogromnacht angeregt, denjenigen Jüdinnen und Juden, die in Nürnberg gelebt und so viel für die Stadt getan haben, mehr Wertschätzung entgegenzubringen und das Wissen um ihre Verdienste zu vermitteln. Dann sind wir als Gemeinde noch einen Schritt weitergegangen und haben gesagt: Wir wollen kein Museum, sondern eine Stätte der Begegnung schaffen – mit allen Nürnbergerinnen und Nürnbergern, aber auch über die regionalen Grenzen hinaus.
Marcus König: Jo-Achim Hamburger und ich sind seit vielen Jahren im Gespräch. Ich habe diesen Wunsch also gerne aufgenommen. Und zwar nachhaltig mit Blick auf die Zukunft. Mir war es ein großes Anliegen, aus unserer Geschichte heraus, aber auch vor dem Hintergrund des Jubiläumsjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« eine Resolution zu verfassen. Mein Wunsch war, dass der gesamte Stadtrat diese Resolution mitverabschiedet – das hat er getan. Einstimmig.

Wieso sind gerade Begegnungen so wichtig?
Hamburger: Weil dieses Format aus unserer Sicht die einzige Möglichkeit ist, Ressentiments und Klischees gegenüber Jüdinnen und Juden abzubauen und einander besser kennenzulernen. Kennenlernen liegt immer noch im Argen. Wenn man sich hingegen trifft und Gelegenheit hat, sich auszutauschen, dann ist der Antisemitismus besser zu bewältigen.

Worum geht es in der Resolution?
König: Wir wollen jüdisches Leben in Nürnberg erfahrbar und selbstverständlich machen. Es geht ja immer darum, Geschichte zu zeigen und sie erlebbar zu machen. Aber eben auch darum, in die Zukunft zu blicken, die Generationen zu verbinden, zu erklären, was Jüdischsein bedeutet. Was heißt das eigentlich? Wie lebt man? Was isst man? Den Gedanken, sich in der Begegnung offen zu zeigen, fand ich spannend und zukunftsgewandt. Denn Orte der Erinnerung haben wir viele. Das Begegnungszentrum aber soll ein Ort der Zukunft sein. Wenn man sich kennt, lernt man, einander zu verstehen. Deshalb wurde das Begegnungszentrum in die Resolution mitaufgenommen.
Hamburger: Ich möchte hinzufügen: Ja, es gibt Erinnerungsorte. Aber eben keine, die an die großen Verdienste der Jüdinnen und Juden von hier erinnern. Ich weiß nicht, ob es einen Tiergarten gegeben hätte, wie er heute aussieht, das Künstlerhaus, den Neptunbrunnen ohne den Beitrag von jüdischen Nürnbergern. Wer weiß denn, dass die Erfinder des Tempotaschentuches und der Damenbinde zwei jüdische Brüder aus Nürnberg waren, Oskar und Emil Rosenfelder, die flüchten mussten? Dass der Großvater des amerikanischen Popstars Billy Joel, Karl Amson Joel, hier einen erfolgreichen Versandhandel aufbaute? Und dass, während Karl Joel seine Firma unter Zwang verkaufen und fliehen musste und von dem vereinbarten Kaufpreis keinen Pfennig sah, der Käufer Josef Neckermann mit dem günstig erworbenen Unternehmen zum Kriegsgewinnler aufstieg? Auch diese Themen müssen wir in so einen Begegnungsort integrieren.

Warum braucht es dafür einen extra Ort?
Hamburger: Ganz einfach: Weil es zu wenige Juden gibt, um sie zu treffen. Die Wahrscheinlichkeit, einen Juden in Deutschland zu treffen, ist geringer, als einen Vierer im Lotto zu haben. Bei fünf Millionen Bürgern muslimischen Glaubens sind Begegnungen schon einfacher. Man spricht über Juden, aber nicht mit uns – eben, weil es so wenige gibt. Wir sind ja nur 150.000. Bei einer Bevölkerung von 83 Millionen ist eine Begegnung da eher unwahrscheinlich.

Welche Erfahrungen haben Sie im Jubiläumsjahr gemacht? Da ging und geht es ja viel um Begegnung.
Hamburger: Ich sehe dieses Festjahr etwas skeptisch. Von 1700 Jahren jüdischem Leben in Deutschland gab es zusammengenommen vielleicht 80 bis 100 Jahre, in denen Juden nicht vertrieben, beraubt oder ermordet wurden. Aber natürlich haben auch wir uns an Veranstaltungen von »1700 Jahre« beteiligt. Doch auch ohne das Festjahr laden wir regelmäßig viele Leute zu uns ein, in die Gemeinde, in die Synagoge. Wir machen Führungen für Schulklassen, Erwachsene, die Polizei, den Rotary Club. Aber natürlich ist all das ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wie kann ein Begegnungsort das ändern?
Hamburger: Er ermöglicht es uns, breiter und offener zu werden. Wir müssen vor allem informieren. Viele Menschen haben überhaupt keine Ahnung. Das mache ich niemandem zum Vorwurf. Denn das Interesse ist ja grundsätzlich da.

Woran merken Sie das?
Hamburger: Der Verein Nürnberg Hadera (NüHa) hat, mithilfe der IKG Nürnberg, etwa im Herbst während des Laubhüttenfestes eine Sukka mitten in der Stadt aufgestellt. Das war ein sehr erfolgreicher erster Versuch, miteinander in Kontakt zu treten. Die Leute haben gefragt, sich beteiligt, es angenommen. Es war wunderbar zu erleben, dass unsere Mitbürger etwas erfahren wollen, was sie vorher noch nicht wussten.

Wird der Wunsch nach mehr Austausch und Kennenlernen jüdischen Lebens aus der Stadtgesellschaft auch an Sie direkt herangetragen, Herr König?
Natürlich. Die Vielfalt ist unsere Stärke. Diese Herangehensweise prägen wir in unserer Stadt seit Jahrzehnten. Da binden wir alle Religionsgemeinschaften ein. Die ganze Stadt ist ein Zeugnis jüdischen Lebens seit ihrer Gründung. Vieles wäre ohne jüdische Nürnberger gar nicht da. Das müssen wir mehr publik machen! Und zwar an mehreren Orten. Aber an einem Begegnungsort kann man die Erfolgsgeschichte Nürnbergs erzählen, die sich auf Ideen und Verdiensten von Jüdinnen und Juden gründet.

Was spricht noch für einen solchen Ort?
König: Er ist das beste Bollwerk gegen Antisemitismus. Ressentiments resultieren doch vielfach aus Unwissen oder Falschinformationen. Bei der Sukka hatten wir anfangs Bedenken, sie mitten in der Stadt aufzustellen. Wir dachten, wir müssten sie mit einer Polizei-Hundertschaft sichern. Nichts dergleichen! Die Erfahrung hat deutlich gezeigt: Deshalb brauchen wir dieses Begegnungszentrum. Um jüdisches Leben sichtbarer zu machen. Und damit sicherer für die Zukunft. Das Kennenlernen ist ein wichtiger Weg.

Halten Sie unverkrampften Austausch denn für möglich? Wie kann er gelingen?
Hamburger:
Ja. Wenn wir hier leben wollen, hier die Zukunft sehen, müssen wir entspannter werden. Das gelingt auch, weil wir viel Unterstützung haben. Die Menschen stehen hinter uns und zeigen Zivilcourage. Wir stehen zusammen.
König: Das kann ich unterstreichen. Die Vernünftigen sind in diesem Land die Mehrheit, davon bin ich überzeugt. Ehrlichkeit und Redlichkeit verpflichten auch im Umgang mit der Geschichte. Wir wollen den Blick nach vorne richten mit der neuen Generation. Doch der wird nur möglich, wenn man unverkrampft miteinander umgeht in dem Wissen, was war. Das ist die Kernbotschaft. Judentum ist doch viel mehr als Schoa. Das müssen wir zeigen, auch wenn die Vergangenheit natürlich Platz in der Begegnungsstätte haben soll. Es soll normal sein und Spaß machen, sich dort aufzuhalten, und kein Zwang, sich mit dem Judentum zu beschäftigen. Wir wollen kein Fort Knox. Im Gegenteil. Wenn wir das jetzt wieder so abschotten, dass man Angst hat hineinzugehen, bringt das nichts.

Wie soll der Begegnungsort gestaltet werden?
König: Genau das wollen wir gemeinsam mit der Zivilgesellschaft erarbeiten. Im Dezember hatten wir ursprünglich zu einer Art offenem Marktplatz eingeladen mit vielen Fragen, Wünschen und Anregungen. Die Menschen miteinzubinden, ist das Erfolgsgeheimnis. Doch pandemiebedingt mussten wir das erst einmal aufs neue Jahr verschieben. Alle zivilgesellschaftlichen Strömungen sollen eingeladen werden und mitgestalten. Wir wollen keinen erhobenen Zeigefinger, sondern Normalität. Doch klassische Partizipationselemente mit Ständen, Diskussionsrunden funktionieren am besten, wenn man sich begegnet. Das kann man digital nicht machen. Wir warten da jetzt erst einmal die weitere Pandemieentwicklung ab.

Welche Ideen aus der Gemeinde gibt es?
Hamburger: Wir stellen uns so etwas vor wie »Anu«, das Museum des jüdischen Volkes in Tel Aviv. Auch mit ein paar digitalen Highlights und virtueller Realität. Das wäre toll. Wir wollen etwa zeigen, wie eine Tora geschrieben wird. Wir wollen zeigen: Was ist zeitgenössische jüdische Literatur? Wir wollen über jüdische Ethik diskutieren, Ausstellungen zeigen, Theater spielen. Auch einen Ort der Kontemplation im koscheren Café stellen wir uns vor. Kunst, Kultur, Kulinarik, Geschichte also. Wenn wir das fünf Tage die Woche bespielen, kommen wir auch an die Leute heran. Und zwar auf Augenhöhe, ohne erhobenen Zeigefinger, da stimme ich dem Oberbürgermeister zu. Wir wollen voneinander lernen.

Die Idee ist da. Der politische Wille ebenso. Wie sieht der weitere Zeitplan der Umsetzung aus?
König: Im ersten Quartal werden wir zum Partizipationsprozess einladen. Erst einmal gibt es einen Open Space – wir sagen nicht, so wird es gemacht, sondern ziehen es von der anderen Seite auf, gehen darauf ein, was die Menschen wollen, auch die IKG-Mitglieder. Aus diesem partizipativen Austausch, aus der Idee entwickeln wir dann eine Form für die Inhalte, die ja da sind. Wenn wir die Form haben, suchen wir in der Stadt nach einem geeigneten Ort. Natürlich soll das jüdische Begegnungszentrum mittendrin sein. Downtown. Wir sind ja auch schon sehr weit. Jo-Achim Hamburger und ich haben schon mit vielen Leuten gesprochen und stoßen auf viel Offenheit. Fürs Frühjahr planen wir eine Machbarkeitsstudie.

Wie soll das Projekt finanziert werden?
Hamburger: Natürlich muss ein stimmiges Konzept vorliegen, dann werden uns auch alle unterstützen, davon bin ich fest überzeugt: die Bundesregierung, der Freistaat Bayern, die Stadt Nürnberg, der Zentralrat. Betreiber muss auch nicht unbedingt die IKG Nürnberg oder die Stadt sein. Darüber kann man ja mal nachdenken.

Was macht dieses Projekt so einzigartig?
König: In Nürnberg gibt es so etwas noch nicht.
Hamburger: Auch in Deutschland nicht. Das neue Jüdische Museum in Frankfurt ist ein Museum, ebenso das Jüdische Museum Berlin. Ich denke, ein Ort, der offen, begehbar, erfahrbar, erfühlbar ist, fehlt uns bislang in Deutschland. Hinzu kommt, und das sehen wir ganz ähnlich, dass ein solcher Ort auch der Stadt Nürnberg zugutekommt. Und zwar international. Wir sind die Stadt der Menschenrechte, und als solche profitiert Nürnberg von einem solchen Ansatz.
König: Absolut. Wir gehen mit vielen Themen in die Zukunft. Davon zeugt nicht zuletzt das neue Zukunftsmuseum, das 2021 eröffnet hat. Unser Projekt soll ein Ort der zivilgesellschaftlichen Begegnung sein. Und zwar unter dem Motto »Einfach so«. Man kann da einfach so hingehen. Das ist das Projekt der Zukunft für Nürnberg. Nicht zuletzt auch, um jüdisches Leben künftig zu sichern. Mein Ziel ist es, jüdisches Leben ganz frei zu erleben – nicht nur aus der Geschichte heraus, sondern in der Gegenwart und in der Zukunft.

Sie schauen auf Gegenwart und Zukunft. Welchen Anteil hat die Erinnerung?
Hamburger: Gedenken ist sehr wichtig. Aber es läuft oft ritualisiert ab. Friedhöfe, Museen, Ritualgegenstände. Wir lassen uns nicht immer nur reduzieren auf Antisemitismen und diese Opferrolle, die uns ganz schnell wieder in die Schuhe geschoben wird. Jetzt ist der Zeitpunkt, auch einmal darüber nachzudenken, dass die Jüdinnen und Juden, die heute unsere Gemeinden ausmachen, zum großen Teil aus der Ex-Sowjetunion kommen. Sie haben eine ganz andere Perspektive: Der Papa, der Opa waren die Befreier, sie kamen hierher als Sieger. Die Vergangenheit ist wichtig, ganz klar. Aber diese Geschichte muss ich meinen jungen Leuten anders vermitteln, weil sie einen anderen Bezug dazu haben. Wenn wir eine Balance finden zwischen Gedenken und Zukunft, wäre ich persönlich sehr froh.

Mit dem Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg und dem Nürnberger Oberbürgermeister sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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