Hamburg

Eine deutsche Familie

Reinhard Schramm beschreibt den Leidenswegs seines Onkels Rudolf Murr. Foto: Moritz Piehler

Reinhard Schramm ist Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, doch in dieser Funktion hatte er dieses Mal nicht den langen Weg nach Hamburg angetreten. Stattdessen war der 72-Jährige im Norden, um über seine ganz persönliche Familiengeschichte zu sprechen. Denn Schramms Onkel, der Weißenfelser Schuhmacher Rudolf Murr, war 1941 im Konzentrationslager Neuengamme ermordet worden, vor den Toren der Hansestadt.

»Das letzte Mal habe ich das Lager mit 14 Jahren besucht«, erzählt Schramm. »Damals war es noch keine Gedenkstätte, danach wurde die innerdeutsche Grenze geschlossen.« Nun beschreibt er es als außerordentlich beeindruckend, den Namen seines Onkels dort eingraviert zu finden. Neuengamme war als Arbeitslager nicht bekannt für seine jüdischen Häftlinge, und auch in der Nachkriegszeit und der zunehmenden Organisation der Gedenkstätte gab es eine Art Tradition der Trennung zwischen politischen Gefangenen und Überlebenden oder Angehörigen der jüdischen Häftlinge.

Dabei kam in den Jahren 1940 bis 1942 fast ein Drittel der Juden bereits in den ersten Monaten, nachdem sie das Lager erreicht hatten, um. Viele durch die unmenschlichen Bedingungen der Arbeitseinsätze, andere durch Exekution oder Misshandlung, auch durch andere Häftlinge. Schramm beschränkt sich in Hamburg darauf, die Sicht seiner Familie auf die Lebensgeschichte seines Onkels zu beschreiben, denn auch sie erfuhr nur aus zweiter Hand, was sich in Neuengamme abspielte.

Deportation Schon in Weißenfels wurde Murr drangsaliert, mehrfach verhaftet und durch die Straßen getrieben. Zunächst wurde er nach Sachsenhausen und dann nach Dachau deportiert, von wo er schließlich ins KZ Neuengamme gebracht wurde. Fast die gesamte Familie kam in den Vernichtungslagern um, die Firma des Onkels wurde enteignet, die nichtjüdische Ehefrau ließ sich kurz vor dessen Ermordung noch von ihm scheiden. Das Ende von Rudolf Murr lässt sich nur schwer rekonstruieren, vermutlich wurde er in einer Exekutionswelle, die man anlässlich von Hitlers Geburtstag durchführte, ermordet. Die Akten aus Neuengamme führen lapidar nur Herzmuskelschwäche als Todesursache auf, er war noch nicht einmal 36 Jahre alt geworden.

»Die Familienfeiern waren bei uns zu Hause die Todestage, oft noch nicht einmal die korrekten Daten, an denen meine Mutter geweint hat«, berichtet Schramm aus seiner Kindheit. Der einjährige Reinhard und seine Mutter hatten das Glück, in den letzten Kriegsmonaten vor der Befreiung von einem kommunistischen Ehepaar versteckt zu werden, und überlebten so die letzte Welle der Deportationen. Besonders hart traf die Mutter eine Szene, in der die Nachbarinnen ihr und dem Säugling Reinhard während der Bombardierung Thüringens den Zutritt zum Luftschutzkeller verwehrten. »Ich war und bin den Alliierten sehr dankbar, bis jetzt, auch den Russen, ohne deren 20 Millionen Opfer ich heute nicht hier wäre«, sagt Schramm sehr deutlich, ohne dabei aber den schwelenden Antisemitismus in der UdSSR nach dem Weltkrieg zu verschweigen.

Denunziation Schramms Familie blieb auch weiterhin ein Spiegelbild der deutschen Geschichte. Der nichtjüdische Vater wurde im Nachkriegsdeutschland als Nazi denunziert und inhaftiert und starb kurz nach seiner Freilassung. Mutter und Sohn waren in der DDR »gläubige Sozialisten«, den Glauben an Gott hatte die Mutter nach dem Holocaust verloren. Gleichwohl versteckte sie ihr Jüdischsein nach dem Kriegsende nie wieder. Ende der 80er-Jahre besuchte sie erstmals wieder die Synagoge in Erfurt, den 40-jährigen Sohn an ihrer Seite.

Schramm selbst begann sich im Zuge des Eichmann-Prozesses intensiv mit der Geschichte der Juden in Deutschland und speziell in Weißenfels zu beschäftigen, denn einer der Richter, Benjamin Halevi, war ein ehemaliger Schulkamerad der Mutter, den sie im Fernsehen wiedererkannte – Auslöser dafür, mit ihrem damals 17-jährigen Sohn auch über die Familiengeschichte zu sprechen. Denn das Thema Holocaust spielte in Unterricht und Medien kaum eine Rolle. »Die DDR war kein antisemitischer Staat«, stellt Schramm fest. »Auch dort gab es solche und solche Menschen«, wie eben die Familie Sperber, die ihn und seine Mutter vor der Deportation bewahrte.

Hierarchien Eine »Opferhierarchie« habe es aber durchaus gegeben. Und natürlich andere Repressalien, denn seine polnische Ehefrau verlor im Zuge der deutsch-polnischen Krise ihre Arbeitsstelle, wurde von den Nachbarn ausgeladen und gemieden. Szenen, die die Familie am Image der geläuterten Deutschen zweifeln ließ. Der älteste Sohn wurde als politischer Gefangener inhaftiert und verließ die DDR nach seiner Freilassung.

Heute erhält der SPD-Mann Schramm regelmäßig Drohbriefe, die »leider immer klüger werden und weniger Fehler enthalten«, erzählt er. Für ihn ein Indiz, dass der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Auch die zunehmende Zahl der Flüchtlinge mit teilweise antisemitischen Vorurteilen bereiteten vielen seiner Gemeindemitglieder Sorgen.

Schramm selbst ist da eher pragmatisch eingestellt: »Das ist doch kein Wunder, wenn viele der Familien aus dem Nahen Osten mit dieser Einstellung herkommen.« Angst helfe da aber nicht viel. »Wir müssen dafür sorgen, dass wir vor allem deren Kinder und Enkel bilden und integrieren, damit diese die Vorbehalte ihrer Eltern nicht mehr haben. Es hilft nur Erziehung zur maximalen Toleranz.« Schramm selbst hält guten Kontakt zu muslimischen Gemeinden. Man dürfe sich nie ausruhen, in dem Bestreben, die nachfolgenden Generationen auszubilden und so den aufkeimenden Populismus und Fremdenfeindlichkeit im Zaum zu halten.

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