Berlin

»Ein Wort aus einer verloren gegangenen Welt«

»Was ich mir davon erhoffe, ist Neugierde.« Elianna Renner Foto: CEREN-SANER

Frau Renner, Sie haben vergangene Woche in Berlin eine Luftperformance realisiert. Dabei zog ein Flugzeug ein Banner mit der Aufschrift des jiddischen Wortes »Pitshipoy« durch die Luft. Hat die Aktion so gewirkt, wie Sie sich das vorgestellt hatten?
Ja, auf jeden Fall. Pitshipoy flog über Berlin. Ich bin zuversichtlich, dass die Stadtbewohner, die durch die Aktion als Publikum miteinbezogen wurden, darüber grübelten, wer Pitshipoy wohl sein mag oder was Pitshipoy vielleicht bedeuten könnte.

Und was bedeutet es?
Pitshipoy ist ein Begriff aus der jiddischen Folklore, zu finden in Kinderliedern, in Erinnerungen an ein fiktives Schtetl, aber auch als Name eines Fußballklubs und einer Comicreihe. Gemein ist seinem unterschiedlichen Gebrauch, dass er stets für etwas Unbestimmtes, für einen imaginären Ort steht. Seine größte Popularität auf engem Raum erlebte Pitshipoy während der Schoa im Sammellager Drancy in Frankreich. Das Wort beschrieb dort einen unbekannten und imaginären Fluchtort, der das Vakuum der Hoffnung bis vor die Tore von Auschwitz füllte. Es sickerte nach und nach in das kollektive Bewusstsein der Inhaftierten in Drancy ein und wurde Teil einer kollektiven Erinnerung.

Welchen Effekt erhoffen Sie sich von der Performance?
Ein Wort, das über Jahrhunderte durch die jiddische Sprache wanderte, von Russland über Galizien nach Vilna, Łódz, Berlin und Paris, flog nun über unsere Köpfe. Pitshipoy wurde gesehen, gelesen, durchstreifte die Gedanken und ließ sich auf der einen oder anderen Zunge nieder. Bestimmt wurde es ausgesprochen, sein Klang improvisiert, denn diesmal wandte sich Pitshipoy auch an Leute, die kein Jiddisch sprechen. Pitshipoy war eine Stunde lang für alle zu erleben. Was ich mir davon erhoffe, ist Neugierde. Die Luftperformance ist außerdem das Herzstück einer multimedialen Installation, die ich zusammen mit Werken der Videokünstlerin Sharon Paz ab dem 25. September in der Berliner alpha nova & galerie futura präsentiere.

Sie ergründen mithilfe Ihrer Kunst seit Jahren die Schoa. Warum?
Der Fokus meines künstlerischen Schaffens ist das Biografische und Historische. Die jüdische Geschichte tappt da immer wieder dazwischen. Das liegt wohl daran, dass ich sie auch als meine Geschichte verstehe. In meiner künstlerischen Arbeit geht es mir um das Hinterfragen von historischen Narrativen und deren Auslassungen – immer mit dem Ziel, die hinter dem Vergessenen oder Verschwiegenen stehenden Machtverhältnisse sichtbar zu machen. Die Schoa kommt außerdem wiederholt in meinen Arbeiten vor, da mich als Angehörige der zweiten Generation die Geschichte und Thematik immer wieder beschäftigt – vor allem, seit ich in Deutschland lebe.

Warum haben Sie sich gerade mit diesem Begriff befasst – und nicht mit einem anderen Wort?
Pitshipoy ist ein Wort einer verloren gegangenen Welt, die gewaltsam zerstört wurde, die aber doch mancherorts überlebt hat und immer wieder neu in Erscheinung tritt. Ein kindisches, ein poetisches, ein fröhliches, ein positives Wort. Ein Wort der Hoffnung, ein Wort, das uns Luft zum Atmen gibt. Es ist mir zum ersten Mal in dem Buch »Und du bist nicht zurückgekommen« der Schoa-Überlebenden Marceline Loridan-Ivens begegnet. Das war vor bestimmt fünf Jahren. Meine Motivation, mich so lange damit zu befassen, hängt damit zusammen, dass ich zu Beginn der Recherche davon überzeugt war, dass Pitshipoy nicht im Lager Drancy erfunden wurde.

Und das hat sich dann auch bestätigt?
Ja, das hat es. Der Begriff Pitshipoy ist nach Frankreich eingewandert mit den Jiddisch sprechenden Juden. Und wurde in Frankreich nach der Schoa zu Pichipoï. Falls Leser Ihrer Zeitung noch ein russisches Pitshipoy-Gedicht aus ihrer Kindheit kennen oder eine Tonaufnahme von Liedern, können sie mich gerne kontaktieren.

Mit der Schweizer Künstlerin sprach Maria Ugoljew.
Infos unter
www.eliannarenner.com

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Auszeichnung

Düsseldorfer Antisemitismusbeauftragter erhält Neuberger-Medaille

Seit vielen Jahren setze sich Wolfgang Rolshoven mit großer Entschlossenheit gegen Antisemitismus und für die Stärkung jüdischen Lebens in Düsseldorf ein, hieß es

 16.09.2025

Erinnerung

Eisenach verlegt weitere Stolpersteine

Der Initiator des Kunst- und Gedenkprojekts, Gunter Demnig aus Köln, die Stolpersteine selbst verlegen

 16.09.2025

Porträt der Woche

Passion für Pelze

Anita Schwarz ist Kürschnerin und verdrängte lange das Schicksal ihrer Mutter

von Alicia Rust  16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  16.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025

Berlin

Margot Friedländer Preis wird verliehen

Die mit insgesamt 25.000 Euro dotierte Auszeichnung gehe an Personen, die sich für Toleranz, Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie einsetzen

 15.09.2025