Living Music

»Diese Schätze nicht vergessen«

Lädt zum fünften Mal zu einer besonderen musikalischen Reise ein: Kantorin und Sängerin Mimi Sheffer Foto: Daniela Incoronato

Living Music

»Diese Schätze nicht vergessen«

Mimi Sheffer über ihre Konzertreihe, geflüchtete jüdische Komponisten und Traditionen zu Rosch Haschana

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  02.09.2019 12:40 Uhr

Frau Sheffer, seit 2015 machen Sie in Ihrer Konzertreihe »Living Music« auf Stücke und Schicksale geflüchteter jüdischer Komponistinnen und Komponisten aufmerksam. Wen stellen Sie in diesem Jahr in den Mittelpunkt?
In diesem Jahr wird es eine Hommage an Else Lasker-Schüler geben. Das ist ein roter Faden. Ein zweiter ist Ursula Mamlok, eine Komponistin, die aus Deutschland vertrieben wurde und erst nach Südamerika ging, sich dann in New York etablierte und ihre letzten Lebensjahre in Berlin verbrachte – hier habe ich sie auch kennengelernt.

Jeden Monat wird es ein Konzert geben, dazu Sonderkonzerte, eine Filmvorführung und eine Videoinstallation. Auftakt ist das jüdische Neujahrskonzert am 1. September.
Das jüdische Neujahrskonzert hat mittlerweile Tradition. Eine Tradition, die wir 2015 begonnen haben und bei der wir das Genre »durchkomponierter Gottesdienste« spielen – immer für Chor, Kantor und Orgel. Auch sie wurden bislang kaum aufgeführt. Es gibt immer auch einen Neujahrsempfang mit Äpfeln und Honig.

Welche Komponisten stellen Sie vor?
Nachdem wir in den vergangenen Jahren jüdische Liturgien von David Schiff, Michael Isaacson und Paul Ben-Haim gespielt haben, präsentieren wir in diesem Jahr ein Stück, das ich schon sehr viele Jahre bewundere: »Avodath Shabbat« von Herman Berlinski. Er kam aus Leipzig, flüchtete, war Organist und schrieb ganz andere Farben und Klänge, als man sie sonst kennt. Ohnehin war jeder, der in diesem Genre schrieb, ein Erneuerer. Kein Stück ähnelt dem anderen. Außerdem spielen wir »Miriams Lied zum Schabbat« von der amerikanisch-jüdischen Komponistin Miriam Gideon. Sie lebte in den USA – möglicherweise ist sie die einzige Frau, die so ein Stück geschrieben hat. Da wir nicht zwei ganze Gottesdienste aufführen können, haben wir von beiden Stücken Highlights genommen.

Wird dies das einzige liturgische Konzert sein?
Ja, alle anderen liegen im Bereich der klassischen Musik. Für mich ist es diese Naht zwischen Kantorin und klassischer Sängerin – die Stücke sind so geschrieben, dass sie nur von Sängern mit einer klassischen Ausbildung vorgetragen werden können. Da ich beides bin, Sängerin und Kantorin, ist das sehr reizvoll für mich. Ich bin eine betende und singende Frau – und wenige dieser Kompositionen wurden von Frauen interpretiert.

Warum ist Ihnen der Fokus auf geflüchtete Komponisten so wichtig?
Es ist einfach ein riesiger Schatz, der jahrzehntelang in den Archiven verstaubte, und fantastische Musik, die so reich ist vom Klang und auch von den verschiedenen Richtungen her, die jeder Einzelne dieser Komponisten genommen hat. Wenn man bedenkt, was alles gespielt wurde, diese Bandbreite von Romantik bis Avantgarde, das ist einfach eine große Vielfalt, die nicht vergessen werden darf. Manche der Komponistinnen und Komponisten haben überlebt und entweder ihre Musik und ihre Sprache mitgenommen oder eine neue entwickelt.

Kann man die Fluchterfahrung aus den Stücken heraushören?
Ja, auf jeden Fall. Diese forcierte Reise um die Welt und der Bruch, der Schmerz, die Sehnsucht, die Fremdheit oder auch ein neues Heimatgefühl bringen noch mehr Perspektive in die Musik, all das spiegelt sich in der Musik wider. Es wäre sicher anders gewesen, wenn diese Komponisten und Komponistinnen einfach ruhig gelebt hätten und ihren Weg gegangen wären.

Ist es das, was Sie an diesem Projekt besonders reizt?
Ja, vielleicht ist das etwas, das mich daran anzieht – und einfach die Musik. Das war schon immer meine Sache: Musik, die noch nicht gehört wurde, zu interpretieren. Das ist etwas ganz anderes, als zum 1000. Mal Mozart zu spielen.

Die Musik und Schicksale dieser Männer und Frauen aus den Archiven zu entstauben, ist eine Mammutaufgabe. Auf welche Herausforderungen stoßen Sie dabei?
Es ist sehr viel Arbeit, nur ein einziges Stück aus dem Archiv zu bergen. Dazu gehört, es aufzuspüren, dann transkribieren zu lassen, zu lesen und schließlich zu interpretieren, sodass wir so viele solcher Stücke in einer Reihe gar nicht haben können. Schließlich sind dies alles Stücke, die noch nicht aufgeführt wurden.

Wen stellen Sie zum Beispiel in diesem Jahr vor?
Zum Beispiel Stücke von Rosy Wertheim, einer niederländischen Komponistin, Pianistin und Musikpädagogin, die nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Niederlande Geheimkonzerte in ihrem Keller veranstaltete, überwiegend mit verbotenen Werken jüdischer Komponisten. Rosy Wertheim schrieb mehr als 90 Musikstücke, die meisten davon sind undatiert. Die Stücke kommen aus einem Archiv in Holland.

Wen noch?
Wilhelm Rettich, einen Komponisten und Dirigenten aus Leipzig – er hat 1946 Gedichte von Else Lasker-Schüler vertont, das Opus 26a. Das lag verschollen in dem Archiv von Else Lasker-Schüler in der israelischen Nationalbibliothek. Es ist nicht herausgegeben worden, wir wussten lange nicht, dass es überhaupt existiert.

Wann wird der Zyklus zu hören sein?
Beim dritten Konzert im November. Nicht alle 26 Lieder, aber ein paar. Zusätzlich dazu werden Stücke anderer Komponisten erklingen, Josef Tal und Erich Walter Sternberg etwa – alles Musiker, die die Dichterin während ihrer Jahre in Israel persönlich kannten. Deswegen hat diese Aufführung einen noch größeren Mehrwert.

Welche Highlights empfehlen Sie außerdem?
Es gibt noch zwei Konzerte in der Reihe in Brandenburg – wir gehen damit zurück zu unseren Ursprüngen, nicht nur in Potsdam zu spielen, sondern den Menschen die jüdische Musik gewissermaßen vor die Haustür zu bringen. Eines der Konzerte ist am 15. September in Fürstenberg bei Ravensbrück – in Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte. Es heißt »Ihre Stimme ruft – vertonte Gebete von Frauen«. Die Gebete wurden entweder von Frauen geschrieben oder von Frauen vertont. Zum Beispiel drei Gebete von Bertha Pappenheim, die die israelische Komponistin Anna Segal extra für dieses Konzert vertont hat. Das wird sehr bewegend – denn darunter ist unter anderem auch ein Stück, das während des Holocaust geschrieben wurde: ein Gebet von Lena Stein-Schneider, »Avinu Malkenu«, dass der Horror aufhören möge. Das sind Gebete, die auch die nächsten Generationen weiterentwickelt haben – und die wir mit unseren Konzerten weitergeben wollen.

Mit der Kantorin und künstlerischen Leiterin der Musikreihe »Living Music« sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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