Rubel

Die Kopeke zweimal umdrehen

Der Kursverfall ist drastisch. Das erfahren viele Zuwanderer von ihren Freunden und Angehörigen aus der alten Heimat. Foto: imago

Lena S. leitete bis vor Kurzem ein kleines Übersetzungsbüro in Frankfurt. Die russischsprachigen Kunden kamen aus Deutschland und Russland. Neben Übersetzungsdiensten bot die gelernte Juristin, die in Moskau und Frankfurt studiert hat, auch Behördengänge und Rechtsberatung an, manche Projekte davon sogar im Rahmen von EU-Förderung. Doch diese Mittel sind seit dem Ukraine-Konflikt weggefallen.

Durch die Rubelkrise habe sich die Auftragslage verschlechtert, so die Dolmetscherin, die ihren Namen lieber nicht nennen möchte. Die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen sei zurückgegangen, denn es gebe keine Flexibilität mehr, die Rechtslage sei zu unsicher. Anfang Januar hat Lena S. wieder eine Festanstellung angenommen. Ihre eigene Firma läuft so lange nebenbei, »bis sich die Lage stabilisiert hat«. Wann das sein wird, weiß sie natürlich nicht.

Dennoch nimmt sie die Auswirkungen des Rubelverfalls auf ihr Leben in Deutschland gelassen. Den beruflichen Einschnitt nennt sie schlicht »Veränderung«. »Ein Markt verschwindet, neue Nischen eröffnen sich – das sehen die Menschen in Russland ganz ähnlich«, meint Lena entspannt.

Ihre Eltern leben noch in Moskau, ihre Schwester und deren Familie ebenso. Das Auswandern sei heutzutage nicht mehr so einfach wie noch vor 20 Jahren, meint die Dolmetscherin. Außerdem gehe es vielen Mittelständlern in Russland recht gut.

Pragmatismus Putins Schuldzuweisung an den Westen wegen der Wirtschaftskrise wiegelt sie ab. »Viele Leute stimmen Putin zu, manche sind skeptisch.« Ängste seien zwar da, aber der Alltag in Moskau sei zu stressig für Sorgen. »Für Luxusgedanken bleibt da einfach keine Zeit«, meint Lena. Außerdem habe die ältere Generation schon so viele Krisen erlebt, dass es da auf eine mehr oder weniger auch nicht ankomme. Ihre Freunde und Verwandten jedenfalls sähen die gegenwärtige Rubelkrise pragmatisch: »Auslandsreisen hat mittlerweile jeder gemacht. Dann verzichtet man eben mal eine Zeit lang darauf. Es werden auch wieder andere Zeiten kommen.«

Es sei vor allem dieser Pragmatismus, der die russische Mentalität am besten charakterisiere, bestätigt Yury Sokolov. Vor Ort ist die Situation um einiges entspannter, als das im Westen wahrgenommen werde, meint der 24-Jährige, der in Berlin Bauingenieurwesen studiert. Geboren ist Sokolov in St. Petersburg. Kurz vor dem Jahreswechsel besuchte er dort Vater, Bruder und Großmutter.

»Ich war erstaunt darüber, wie locker die Leute mit der Krise umgehen«, schildert der ELES-Stipendiat seine Eindrücke. »Die Menschen haben schon ganz andere Krisen erlebt: den Zusammenbruch der Sowjetunion, den Wirtschafts-Crash Ende der 90er-Jahre. Wer damals entschied, dort zu bleiben, der hat sich etwas aufgebaut«, so seine Einschätzung.

Keine Angst Yurys Bruder zum Beispiel arbeite gerade als Bauleiter an einem neuen Projekt am Flughafen. Ihm und seiner Familie gehe es gut – jetzt noch. Natürlich mache sich niemand etwas vor: Inflation, Lohnentwertung, Rentenkürzungen, damit rechnet auch Sokolovs Familie. Doch anders als in Deutschland plane man in Russland kurzfristiger und habe weniger Angst vor der Zukunft. Sein Fazit: Die Situation sei schwierig, aber die Menschen lassen sich davon nicht abschrecken, auch weiterhin Ziele wie etwa einen Urlaub anzustreben.

Ilia Choukhlov macht da andere Erfahrungen, vor allem, wenn er derzeit mit Freunden in Russland spricht. Auch er wurde in St. Petersburg geboren. Im Alter von 14 Jahren kam er mit seiner Mutter nach Deutschland.

Der 31-jährige Jurastudent ist Vorsitzender des Jüdischen Studentenverbandes Franken. Vor dem Jahreswechsel rief ihn eine Freundin aus der Heimat an: Die Regale im Media Markt seien leer, sämtliche IKEA-Küchen ausverkauft. Im Apple-Onlineshop könne man nichts mehr bestellen, und bei Kamaz, Russlands größtem LKW-Hersteller, stünden die Fließbänder still. Zudem würden sich die Lebensmittelpreise mehrmals am Tag ändern.

Auswanderung
Unter diesen Umständen sei Auswandern für viele junge Leute durchaus eine Option, meint Choukhlov. Denn niemand wisse, wie es weitergeht. Beunruhigt ist Choukhlov vor allem über die verschärfte Tonart im russischen Staatsfernsehen. »Da wird die Krise mit dem Ölpreisverfall begründet. Aber von den Sanktionen kein Wort. Wie da der Nationalstolz gegen den Westen geschürt wird, das erinnert schon stark an den Eisernen Vorhang«, meint der angehende Jurist. Doch diese Meinung teilen längst nicht alle in seiner Gemeinde.

»Die jüdischen Gemeinden in Deutschland sind in dieser Frage gespalten, gerade weil es so viele persönlich betrifft«, sagt Choukhlov. Für viele Juden aus Russland und der Ukraine sei das Thema Rubelkrise ein heißes Eisen. »Entweder wir scherzen darüber oder wir kriegen uns in die Haare, so emotional aufgeladen ist die Frage.«

Ähnliches berichtet Evgenia Kaploun. Die 27-Jährige kam vor sieben Jahren aus Irkutsk nach Karlsruhe, wo sie Bioingenieurwesen studiert. Dass sie dank eines Stipendiums finanziell von Russland unabhängig ist, empfindet sie als großes Glück, denn sonst wäre auch sie »sicherlich stark von der Rubelkrise betroffen«. So wie ihr Moskauer Freund Alexandr, eigentlich ein erfolgreicher Start-up-Gründer. Doch seinen Silvesterurlaub in Portugal habe auch er kurzfristig storniert.

»Es ist so, als würde der Rubelkurs uns zurufen: Bleibt in der Heimat oder geht für immer«, schrieb er seiner Freundin in Karlsruhe per E-Mail halb scherzhaft, halb verzweifelt. Er sei noch nicht bereit, für immer zu gehen, denke aber intensiv darüber nach. Viele ihm wichtige Menschen seien schon ausgewandert oder bereiten diesen Schritt vor.

Elsa M. – auch sie möchte lieber anonym bleiben – bestätigt diesen Eindruck. Die Ärztin kam 2000 mit ihrer Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Doch sechs Jahre später bot die medizinische Fakultät Moskau ihrem Mann eine Professur an. Die Familie ging zurück nach Russland und brachte es zu bescheidenem Wohlstand. Doch jetzt zerbricht sich die Mutter zweier Kinder den Kopf darüber, wie der Alltag weitergehen soll. Beide verdienen zwar gut, doch der Lohn wird in Rubel ausgezahlt. Elsa spürt die Einschnitte schon jetzt.

Teuerungsrate »Alles wird täglich teurer, Importprodukte wie einheimische Waren, aber auch Dienstleistungen.« Die Nachmittagskurse an der jüdischen Schule Moskau werde sie sich wohl nicht mehr lange leisten können. Auch der geplante Urlaub 2015 im Ausland ist gestrichen. »Bleiben oder wieder Koffer packen, für uns ist das eine schwere Entscheidung«, sagt Elsa. Ihr 16-jähriger Sohn hingegen sieht seine Zukunft nicht in Russland.

Dessen Perspektive sieht Rita Gorenstein eher skeptisch. Die Liedermacherin aus Sibirien lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Sie tritt mit russischer Poesie auf und schreibt selbst Lyrik, die sie regelmäßig zu russischen Literaturwettbewerben einreicht – bislang immer erfolgreich und preisgekrönt. In diesem Jahr wurden ihre Gedichte erstmals abgelehnt. Für die Sängerin sind die Kriterien nicht mehr transparent. »Möglicherweise hat es diesmal einfach nicht gereicht. Doch vielleicht waren meine Texte auch zu satirisch. Oder lag es daran, dass ich in Deutschland lebe?« Die Jury-Kriterien erscheinen ihr undurchsichtig.

Denn schon seit einiger Zeit beobachtet Gorenstein eine schleichende Patriotisierung der russischen Sprache. Es gebe mittlerweile Stimmen, die sogar nach Entfernung solch tief verwurzelter Fremdwörter wie »Wunderkind« oder »Butterbrot« aus der russischen Sprache verlangen. Aus ihrer Sicht beruht das gegenwärtige Rubeltief daher vor allem auf einer politischen Krise – die sich schleichend als »Krise im Kopf« einniste.

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024