Porträt der Woche

Der Rückkehrer

»Man fühlt sich jüdischer, wenn die Menschen um einen herum nicht jüdisch sind«: David Kaplan (30) ist Australier und lebt jetzt in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Vor einigen Wochen erst bin ich aus Australien nach Berlin gezogen. Ich habe einen Doktor in Neurowissenschaften und bin mit dem Anspruch hier, in diesem Feld zu arbeiten. Gerade habe ich meinen Job an der Humboldt-Universität angetreten, in der Charité in der neurowissenschaftlichen Abteilung. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, der eigentliche Grund dafür, dass ich in Berlin bin, ist meine Freundin Johanna – sie kommt aus Deutschland, aus Bremen, und lebt hier.

Kennengelernt haben wir uns vor ungefähr eineinhalb Jahren in Melbourne auf einem Markt. Wir hatten beide Mittagspause – sie kam auf mich zu und fragte nach dem Weg zur Uni. Ich habe ihr erklärt, wie sie am besten dorthin gelangt, und sie dann gefragt, ob sie nicht Lust hätte, etwas trinken zu gehen. Der Rest ist Geschichte. Johanna konnte sich gut vorstellen, nach Melbourne zu ziehen und dort zu promovieren.

Berlin Wir haben uns dann aber für Berlin entschieden – die Stadt ist mit Blick auf meine Karriere ein guter Standort, und ich hatte schon länger vor, nach Europa zu kommen. Anfangs kamen Großbritannien und Deutschland für mich infrage, doch als ich Johanna kennengelernt habe, habe ich meine Suche nach einer Stelle weiter eingeengt.

Ich bin zum dritten Mal überhaupt in Berlin. Die vergangenen Jahre war ich regelmäßig in Europa. Ich wollte einfach herausfinden, wo ich mich wohlfühle, deshalb habe ich mir verschiedene Städte angesehen und mich mit Professoren und potenziellen Arbeitgebern getroffen, um Jobchancen auszuloten. Ziemlich früh hatte ich den Eindruck, dass Berlin eine der lebenswertesten Städte in Europa ist. London, könnte man glauben, liege mir eher, immerhin ist Englisch meine Muttersprache und mein Deutsch noch nicht so gut. Aber die Stadt hat einen anderen Vibe – sie ist interessant und cool, aber eben auch sehr teuer, alles ist teuer in London. Und auch, wenn man die Sprache spricht, so kommt es mir vor, ist es schwer, Anschluss oder Freunde zu finden.

Ich habe mir auch Paris angesehen, die Stadt hat mich in verschiedener Hinsicht an London erinnert. Der Wohnungsmarkt ist die Hölle; ich habe Geschichten gehört über Leute, die Jobs haben, gut verdienen, aber einfach keine Wohnung finden können und sich Zimmer mit fremden Leuten teilen.

sprache Also Deutschland: Ich war etwa in Tübingen. Dort ist es wunderschön, aber abgesehen von der Uni scheint dort nicht viel los zu sein, ich wollte lieber in eine Großstadt ziehen; ich war in München, dort ist auch alles sehr teuer. Letztlich erschien mir Berlin am attraktivsten, hier ist unfassbar viel los, das Kulturangebot ist wirklich beeindruckend, und die Stadt ist bezahlbarer als andere europäische Hauptstädte.

Zudem sprechen die Menschen sehr gut Englisch und sind interessant. Natürlich ist es für mich bequem, dass ich Englisch sprechen kann, aber ich möchte Deutsch lernen. Johanna hilft mir, sie bringt mir einige Sachen bei. Ich will mit ihr ein gewisses Niveau erreichen und dann einen Sprachkurs machen. Ich bin ambitioniert, ich lebe nun hier, und mir ist es wichtig, die Sprache zu beherrschen.

Ich mache mir keine Sorgen, dass ich Sprachprobleme haben werde, aber ich habe zumindest Respekt vor der deutschen Bürokratie. Bekannte haben von mehreren »Schichten« von Bürokratie gesprochen, durch die man sich durchbeißen muss, wenn man etwas erreichen möchte. Ich habe jedoch auch Verständnis, es ist mein Eindruck, dass es hier für alles sehr detaillierte Richtlinien gibt. Das macht das Ankommen vielleicht anfangs für den Einzelnen kompliziert, aber derzeit kommen so viele Menschen nach Deutschland, vor allem Flüchtlinge, da ist es nur verständlich, dass gewisse Prozesse länger dauern.

Mir kommt es übrigens so vor, als ob Deutschland nicht so schnell Gefahr läuft, einen Rechtsruck zu erleben, wie andere europäische Länder. Ich weiß, die AfD hat Wahlerfolge errungen, aber woanders sind rechtsnationale oder rechtspopulistische Parteien stärker in der Gesellschaft verankert, etwa in Frankreich oder in den Niederlanden. Ich glaube, das liegt daran, dass sich viele Deutsche immer wieder mit ihrer Geschichte auseinandersetzen und so weniger anfällig für rechte Ideen sind. In Berlin wurde ich bisher nicht mit rechter Ideologie konfrontiert, von der AfD habe ich nur gehört.

traditionen Als Jude bin ich mir der deutsch-jüdischen Geschichte besonders bewusst. Ich bin kulturell jüdisch, meine Eltern sind nicht so richtig religiös. Wir essen freitagabends zusammen, zünden die Kerzen an und segnen Wein und Brot. Dreimal im Jahr an den Hohen Feiertagen gehen wir in die Synagoge. Ich glaube, damit repräsentiere ich viele meiner jüdischen Freunde in Australien ganz gut. Es gibt auch ein paar religiöse Leute in unserer Gemeinde, aber die meisten sind säkular. Ich habe noch eine Schwester und zwei Brüder. Wir haben alle bestimmte Dinge mitgemacht, hatten unsere Bar- und Batmizwa; die Traditionen sind also wichtig.

Ich habe schon oft darüber diskutiert, was es bedeutet, kulturell jüdisch zu sein. Meine Freundin ist nicht jüdisch und hatte bisher auch nicht oft mit Juden zu tun. Deswegen ist das für mich wieder ein Thema. Das Judentum ist nicht nur eine Religion, sondern auch eine Nation. Häufig, wenn man jemandem begegnet und er ist auch jüdisch, findet man schnell gewisse Gemeinsamkeiten, merkt, dass einem die gleichen Dinge vertraut sind, ganz egal, woher er oder sie kommt. Das ist natürlich nicht immer so, aber oft. In vielen jüdischen Familien wird über die gleichen Dinge gesprochen, dabei muss es nicht um religiöse Praktiken gehen oder Kenntnisse der heiligen Schriften, sondern auch um Musik oder TV-Shows.

Ich würde mich gerne in das kulturelle jüdische Leben in Berlin einbringen. Ich weiß, dass hier viel passiert. Dort, wo ich herkomme, habe ich es als selbstverständlich empfunden, jüdisch zu sein. Die jüdische Gemeinde in Melbourne ist groß, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, sie hat etwa 70.000 Mitglieder. Ich bin auf eine jüdische Schule gegangen, deswegen waren, bis ich ein bestimmtes Alter hatte, die meisten meiner Freunde jüdisch. Hier sind die meisten Leute, mit denen ich zu tun habe, nicht jüdisch. Na ja, und man fühlt sich eben jüdischer, wenn die Menschen um einen herum nicht jüdisch sind. Meine kulturelle Identität kommt hier deutlicher zum Ausdruck.

familie Deutsch-jüdische Geschichte ist in Berlin stark zu spüren, mitten in der Stadt ist das Holocaust-Mahnmal. Die Vergangenheit ist schrecklich, meine Eltern haben mir aber nie davon abgeraten, herzuziehen. Sie sind sogenannte »Second Generation Survivors« – sie reisen nach Deutschland, Probleme mit dem Land haben sie nicht. Eltern von Freunden, die etwas konservativer sind, haben meine Entscheidung eher hinterfragt. Meine Großeltern hätten es wahrscheinlich auch kritisch gesehen.

Mit Johanna zusammen zu sein und nach Deutschland zu kommen, hat mir tatsächlich eine neue Perspektive auf den Holocaust gegeben. Ich habe angefangen, darüber nachzudenken, was all das für die Deutschen bedeutet. Deutschland war nach dem Krieg zerstört, viele Deutsche waren tot, und nicht jeder war ein Täter und hat sich schuldig gemacht. Von Johanna habe ich erfahren, dass der Zweite Weltkrieg ein wiederkehrendes Thema im Schulunterricht ist und dass ihre Lehre daraus ist, dass man sich auch in schwierigen Zeiten nicht einem charismatischen Führer mit radikalen Ideen hingeben darf.

Meine Großeltern kommen aus Polen und sind nach Australien ausgewandert. Mein Vater ist sogar noch in Polen geboren, in Szczecin. Mein Großvater mütterlicherseits stammt aus Lodz, meine Großmutter aus Krakau. Meine Mutter wurde 1950 in Australien geboren, wenige Jahre davor, 1946 oder 1947, waren ihre Eltern eingewandert. Meine Großeltern wollten zuerst nach Frankreich, dann in die USA. Schließlich ist es Australien geworden. 1946, also kurz nach Kriegsende, gab es ein Pogrom gegen Juden in Polen. Ich glaube, das war ausschlaggebend für meine Großeltern, auszuwandern. Meine Eltern haben sich dann in Melbourne kennengelernt.

Und ich, die dritte Generation, bin nach Europa ausgewandert. Ich bin sozusagen zurückgekehrt.

»Gila & Nancy«

Rüschen und Rote Bete

Das Restaurant von Eyal Shani verbindet israelisches Fine Dining und Drag. Unsere Autorin hat probiert

von Alicia Rust  22.10.2025

Beratung

»Betroffene sollen wissen: Wir sind da«

Katja Kuklinski arbeitet bei der Düsseldorfer Servicestelle für Antidiskriminierung. Ein Gespräch über Lehrerfortbildung, Anfragen nach dem 7. Oktober und ihre eigene Familiengeschichte

von Katrin Richter  21.10.2025

Leipzig

Zeichen, die Mut machen

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besuchte am 7. Oktober die Gemeinde zu einem Gespräch und besichtigte die Sukka

von Katharina Rögner  21.10.2025

Solidarität

»Dieses Land ist unser Land«

Anlässlich des Jahrestags der Hamas-Massaker kamen auf Initiative des Bündnisses »DACH gegen Hass« rund 1500 Menschen auf dem Münchener Königsplatz zusammen

von Esther Martel  21.10.2025

Buchvorstellung

Sprache, Fleiß und eine deutsche Geschichte

Mihail Groys sprach im Café »Nash« im Münchener Stadtmuseum über seine persönlichen Erfahrungen in der neuen Heimat

von Nora Niemann  20.10.2025

Chemnitz

Erinnerungen an Justin Sonder

Neben der Bronzeplastik für den Schoa-Überlebenden informiert nun eine Stele über das Leben des Zeitzeugen

 19.10.2025

Porträt der Woche

Leben mit allen Sinnen

Susanne Jakubowski war Architektin, liebt Tanz und die mediterrane Küche

von Brigitte Jähnigen  19.10.2025

Miteinander

Helfen aus Leidenschaft

Ein Ehrenamt kann glücklich machen – andere und einen selbst. Menschen, die sich freiwillig engagieren, erzählen, warum das so ist und was sie auf die Beine stellen

von Christine Schmitt  19.10.2025

Architektur

Wundervolles Mosaik

In seinem neuen Buch porträtiert Alex Jacobowitz 100 Synagogen in Deutschland. Ein Auszug

von Alex Jacobowitz  17.10.2025