Porträt der Woche

Das Multitalent

»Ich habe erst nach zehn Jahren kapiert, an welchem Ort ich lebe«: Holly-Jane Rahlens (70) lebt in Berlin. Foto: Massimo Rodari

Porträt der Woche

Das Multitalent

Holly-Jane Rahlens ist Schriftstellerin und zog vor 50 Jahren von New York nach Berlin

von Gerhard Haase-Hindenberg  17.01.2021 09:23 Uhr

Man lebt in Berlin mit »The Ghosts of Germany«, den deutschen Geistern. Sie sind hier noch immer zu spüren. Wenn ich am Lietzensee spazieren gehe, komme ich am ehemaligen Reichsgericht vorbei, wo Todesurteile gesprochen wurden. Ich habe gerade ein Buchmanuskript beendet, darin kommt dieses Gebäude vor. Es geht dabei um eine amerikanische Jüdin in Berlin, die auf den Spuren ihrer Mutter in der Ukraine recherchiert. Allerdings habe ich erst in den 80er-Jahren kapiert – da war ich bereits zehn Jahre in Berlin –, an welchem Ort ich hier lebe.

Meine Kindheit verbrachte ich in einer klassischen jüdischen Familie in New York. Klassisch insofern, als wir fast nie in die Synagoge gingen, höchstens zu den Hohen Feiertagen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir irgendwann einmal zu Hause den Schabbat gefeiert hätten, obgleich meine Eltern richtig koscher aufgewachsen waren.

GROSSELTERN Meine Großeltern sind vor dem Ersten Weltkrieg aus der Ukraine und aus Polen in die USA gekommen, und meine Eltern haben noch Jiddisch miteinander gesprochen, wenn wir Kinder etwas nicht erfahren sollten. Wir verstanden uns als Juden, alle Freunde waren jüdisch, das ganze Umfeld auch, aber man praktizierte nicht unbedingt das Judentum. Das finde ich typisch für viele jüdische Familien in New York.

Als ich vor 50 Jahren mit gerade einmal 20 nach Berlin kam, konnte ich, wenn ich Amerikaner kennengelernt habe, sofort spüren, ob jemand Jude war. In diesem jungen Alter habe ich auch mitbekommen, dass die Gemeinschaft der Juden international ist. Das war mir in Queens und in Brooklyn, wo ich meine Kindheit und Jugend verbrachte, nie in den Sinn gekommen.

Wir gingen fast nie in die Synagoge, aber mein soziales Umfeld war komplett jüdisch.

Nach der Highschool habe ich Theater und Literaturwissenschaft an der City University of New York studiert. An der Highschool hatte ich schon Theater gespielt, und ich wollte Schauspielerin werden. Aber auch das Schreiben war für mich wichtig, weshalb ich eben auch Literatur studierte.

Zwischen meinem zweiten und dritten Jahr habe ich einen deutschen Mann kennengelernt. Er hieß Helmut und war Malermeister. Helmut hatte vor, in Berlin das Abitur nachzuholen, und wollte zuvor noch ein paar Wochen in New York verbringen. Er schaute sich nach einem Job um. Das war ganz einfach, weil alle sagten: »Oh, Sie kommen aus Deutschland und sind ein Meister!« So erfuhr ich, dass Handwerker in Deutschland richtig gut ausgebildet werden.

Als ich dann hier in Berlin ankam, ging ich fünf Monate lang zu einer privaten Sprachschule, um Deutsch zu lernen. Zu dieser Zeit ist mir der Satz aufgefallen: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland!« Paul Celan, von dem dieser Satz stammt, war einige Monate zuvor gestorben. Durch diesen einen Satz des jüdischen Lyrikers, durch das Wortspiel mit dem Wort Meister, habe ich ein Gefühl für die deutsche Sprache bekommen.

HÖRFUNK Ich hatte von der Uni für sechs Monate freibekommen, allerdings sollte ich einen Bericht über meine Erfahrungen mit »Cross Cultural Communication« schreiben. Damit bin ich dann zurück in die USA gegangen und habe meinen Abschluss gemacht.

Im Herbst 1972 zog ich dann endgültig nach Berlin. Damals spielte es für mich keine Rolle, dass ich in das Land kam, in dem der Holocaust seinen Anfang nahm. Ich war jung, ich war verliebt, es war alles anders, Helmut und ich wohnten in einer Studenten-WG, man hat mich angenommen. Beim Radiosender RIAS hatte ich Arbeit gefunden, zunächst im Archiv vom Jugendfunk.

Je besser ich Deutsch konnte, umso mehr wurden andere Bereiche wie Journalismus für mich interessant.

Je besser ich Deutsch konnte, umso mehr wurden andere Bereiche wie Journalismus für mich interessant. Ich wurde Autorin der Literaturredaktion, und in diesem Zusammenhang kam ich dann auch mit Literatur zum Holocaust in Berührung. Vielleicht hat man mir solche Themen gegeben, weil ich Jüdin war.

Ende der 70er-Jahre kam ein Buch heraus mit neu entdeckten Gedichten von Selma Meerbaum-Eisinger, die im Dezember 1942 mit knapp 19 Jahren in einem rumänischen Zwangsarbeitslager umgekommen war. Diese Gedichte fand ich sehr berührend. Dann gab es auch ein Buch über das Mädchenorchester von Auschwitz. Ich habe ein Hörfunkfeature über jüdische Frauen und den Holocaust gemacht. Das war der Moment, in dem ich kapierte, dass ich sehr viel nachzuholen habe.

SOLO-SHOWS Es war nicht so, dass ich vorher nicht gewusst hätte, an welchem Ort ich lebe. Nun aber wurde mir klar, dass es auch zu meiner Geschichte gehört. Meine Großeltern stammten ja aus dem Gebiet, in dem später die Schoa stattfand. Sie hatten es nur durch die frühe Auswanderung schicksalhaft geschafft, dem zu entgehen. Es trennten sie von diesen jüdischen Frauen nur ein paar Jahre und ein Schiff.

Beim RIAS gab es viele Redakteure, die meine Arbeit unterstützten. Später war ich auch als Fernsehautorin tätig. Für den SFB habe ich 1993 einen Film gemacht mit dem Titel Zwischen gefiltem Fisch und gemischten Gefühlen. Dafür habe ich sechs jüdisch-amerikanische Künstler in Berlin interviewt, die alle meine Freunde waren. In diesen Jahren habe ich auch als Schauspielerin im freien Theaterbereich in Berlin gearbeitet.

Dann fing ich an, für den SFB im Fernsehbereich journalistisch zu arbeiten. Parallel produzierte ich sogenannte Passagen-Sendungen im Hörfunk. Das war toll, man konnte 45 Minuten einfach so aus dem Leben erzählen, woraus ich dann wiederum Solo-Shows gemacht habe, die ich Sit-down-comedy nannte. Bei den Jüdischen Kulturtagen 1993 brachte ich eine solche Solo-Show im Grips-Theater auf die Bühne.

Eine Weile war ich parallel mit ganz vielen unterschiedlichen Sachen beschäftigt, zum Beispiel auch mit Übersetzungen ins Englische, habe in Filmen mitgespielt oder für die Berlinale Kolumnen geschrieben.

Eine Weile war ich parallel mit ganz vielen unterschiedlichen Sachen beschäftigt, zum Beispiel auch mit Übersetzungen ins Englische, habe in Filmen mitgespielt oder für die Berlinale Kolumnen geschrieben. Damals hatte ich ein dickes privates Telefonbuch und war sehr gut vernetzt. Das hing eben mit diesen verschiedenen Tätigkeitsbereichen in Film, Fernsehen, Hörfunk und Theater zusammen.

Ich hatte für einen amerikanischen Sender Rachel Salamander interviewt, die Inhaberin der Literaturhandlung in München. Wir haben uns sehr gut verstanden, und sie hat meine Solo-Show »Masel tov in Las Vegas« verschiedenen Leuten empfohlen – und so gastierte ich in ganz Deutschland.

MAUERFALL Dann wurde ich schwanger von meinem jetzigen Mann und habe mich eher aufs Schreiben konzentriert. Ich schrieb ein Jugendbuch mit dem Titel Prinz William, Maximilian Minsky und ich. Dabei handelt es sich um ein jüdisches Mädchen in Berlin, das sich in Prinz William verliebt und nach England will. Das Buch wurde auch verfilmt, wofür ich das Drehbuch verfasst habe.

Danach schrieb ich das Buch Wie man richtig küsst, in dem es auch um ein jüdisches Mädchen geht. Auch bei Mauerblümchen, das ich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls veröffentlicht hatte, geht es um ein jüdisches Mädchen aus New York. Es erlebt 1989 dieses Ereignis mit und beschreibt es aus seiner Perspektive.

Von da an wurde ich in die Schublade als Kinder- und Jugendbuchautorin gesteckt. Ich kann nicht sagen, dass ich das bedaure, das wäre falsch, aber in dem Moment, in dem du für Kinder und Jugendliche schreibst, wirst du in der Buchbranche nicht mehr so ernst genommen. Sie würden zwar alle sagen, dass das Quatsch sei, aber ich kann aus meiner Erfahrung sagen, dass es stimmt!

NISCHE Die Tatsache, dass ich über ein jüdisches Umfeld schreibe, ist das Ergebnis einer Entwicklung, die 1980 begonnen hat. Na, und wenn man in dieser Nische erst einmal Platz genommen hat, erwartet die Branche auch immer weiter jüdische Themen. Ich habe zum Beispiel schöne Science-Fiction-Geschichten für Jugendliche geschrieben, bekam dafür aber von der Presse keine kritische Aufmerksamkeit. Und mit kritisch meine ich eine richtige Rezension in der »Zeit« oder der FAZ.

Oder nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Mein Hörspiel Stella Menzel und der goldene Faden hat vor Kurzem einen Preis als bestes Hörspiel für Kinder bekommen. Der Evangelische Pressedienst hat eine ausführliche Mitteilung gemacht, und ich las im »Tagesspiegel« darüber. Warum? Es ist ein jüdisches Thema. Diese Aufmerksamkeit bekomme ich nicht, wenn ich über ein nichtjüdisches Thema schreibe. So unmöglich es sich anhört, für das jüdische Thema bekommt man einen Bonuspunkt, aber man wird dann für andere Themen einfach nicht mehr ernst genommen.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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