Irgendwo muss es doch sein? Die Dame mit den Blumen in der Hand schaut auf ihren Zettel, den sie sich vorn vom Friedhofswärter hat geben lassen. Auf dem kleinen gefalteten Stück Papier ist der Friedhof Weißensee abgedruckt. 40 Hektar auf vielleicht zehn mal acht Zentimetern. Dort solle sie lang gehen, sie fährt mit dem Finger auf dem Weg ganz außen am Friedhof entlang. »Bis zum Flatterband«, sagte er. Nur, wo ist das Flatterband? Vielleicht da vorn? Ein älterer Herr verlässt die kleine Gruppe, die am vergangenen Freitagmorgen auf dem jüdischen Friedhof Weißensee das Grab von Margot Friedländer sucht, und geht mit energischem Schritt weiter geradeaus, biegt dann links ab und winkt.
Am Tag zuvor war die 103-Jährige auf dem 1880 eingeweihten Friedhof beerdigt worden. Die Trauergemeinde war groß, die Trauernden kamen aus Politik, Kultur, Gesellschaft. Sie gaben Friedländer das letzte Geleit. Nur noch die Absperrungen zwischen der Meyerbeerstraße und der Puccinistraße erzählen aneinandergereiht von der Prominenz des Vortages. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender, der Sänger Max Raabe, Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel, Iris Berben, Zentralratspräsident Josef Schuster – sie alle hatten sich am Donnerstag von der Berlinerin verabschiedet. Sogar gestreamt wurde die Trauerstunde. So beliebt war Friedländer.
Kurz vor ihrem Tod war Margot Friedländer noch bei einer Veranstaltung
Sie sei doch am Tag zuvor sogar noch bei einer Veranstaltung gewesen, sagt ein älterer Berliner, der mit seinem Rollator den huckeligen Weg bis zum Grab von Friedländer bewältigen wird. Da habe er sie noch gesehen, und dann … Er dreht sich um und geht langsam weiter. Biegt ebenfalls nach links ab. Jetzt ist überall das rot-weiße Flatterband zu sehen, das den immer enger werdenden Weg vorbei an sehr alten Gräbern und hochgewachsenen Bäumen bis hin zur kleinen letzten Ruhestätte von Margot Friedländer weist.
Politiker, Künstler und Weggefährten waren zur Trauerfeier gekommen.
Es ist fast still, ein paar Vögel singen, die Blätter der Bäume rauschen, das Papier, in das die Blumen eingeschlagen sind, raschelt beim Entfernen. Gelbe Rosen. Sie liegen neben dem rosa-weißen Blumengrab, neben Steinen, auf denen »Danke, Margot« und immer wieder nur »Danke« steht. Sie liegen neben einer roten Kerze mit einem »Bring Them Home«-Aufkleber und einer der »Antifaschistischen Aktion«.
Ein wenig weiter weg stehen drei Polizeibeamte. Sie sehen, wie die Menschen ihren Weg entlang der Absperrungen machen, wie sie fotografieren, stehen bleiben mit gesenktem Kopf, wie sie wieder gehen, während andere ankommen. Margot Friedländers Grab, das sich neben dem ihrer Großeltern befindet, wird auch an den folgenden Tagen viel besucht. Vielleicht hatten etliche, die Steine, Blumen oder einfach nur ihre stillen Gedanken mit an das Grab nehmen, Margot Friedländer einmal persönlich getroffen, haben über sie gelesen oder sie im Fernsehen gesehen.
Ja, seid Menschen, überlegt sie, das sei so wichtig
Wie war der Satz doch gleich, fragt die Lichtenbergerin: »Seid Menschen«? Ja, seid Menschen, überlegt sie, das sei so wichtig. Die Trauerfeier habe sich die 85-Jährige im Fernsehen angesehen. Das sei sehr bewegend gewesen, also habe sie sich entschlossen, direkt am nächsten Tag hierher zu fahren. Friedländer wirkte auf sie immer sehr bescheiden. Noch ein Foto von den vielen Gebinden – vom Präsidenten des Europäischen Parlaments, vom Bundespräsidenten, dann geht die Berlinerin zielstrebigen Schrittes wieder los.
Margot Friedländer wird als Ehrenbürgerin Berlins auch ein Ehrengrab bekommen, dessen Pflege der Bezirk übernimmt. Ehrengräber sind, so formuliert es der Senat, »Ausdruck der Ehrung Verstorbener, die zu Lebzeiten hervorragende Leistungen mit engem Bezug zu Berlin erbracht oder sich durch ihr überragendes Lebenswerk um die Stadt verdient gemacht haben«.
Das Lebenswerk von Friedländer war ihre Kraft, insbesondere jungen Menschen so viel Verständnis und Toleranz wie nur möglich zu vermitteln. Sie sollten auf kleinste Veränderungen achtgeben, die eine freie und demokratische Gesellschaft gefährden könnten. Denn was es bedeutet, wenn es keine Demokratie mehr gibt, wenn Menschen ausgegrenzt werden und Hass geschürt wird, das hatte Friedländer als junge Frau am eigenen Leib erfahren müssen.
Es sollten zwei Reden an diesem Tag gehalten werden
»Seid Menschen, hast du überall erzählt. Das ist dein Vermächtnis. Du hast uns beigebracht: ›Seid Menschen‹. Das ist deine Botschaft. So einfach und doch so tiefgründig«, so erinnerte sich Rabbiner Yehuda Teichtal in seiner Trauerrede an Friedländer. Es sollten zwei Reden an diesem Tag gehalten werden, das sei Margot Friedländers Wunsch gewesen. Eine von einem orthodoxen Rabbiner. Eine von dem liberalen Rabbiner Jonah Sievers.
»Du hast uns beigebracht: ›Seid Menschen‹. Das ist deine Botschaft.«
Rabbiner Yehuda Teichtal
Er betonte: »Heute nehmen wir Abschied von einer kleinen, großen Frau. Von einer Jüdin, von einer Berlinerin, von einer Zeitzeugin, von einem Menschen, der uns mehr hinterlässt als bloße Worte, nämlich die Verantwortung weiterzutragen, was sie uns mitgegeben hat. Nicht zu vergessen, um die Zukunft zu gestalten.«
Eine sehr persönliche Rede widmete der Weggefährte Leeor Engländer der verstorbenen Margot Friedländer (vgl. Seite 8), vor deren Sarg er sich lange verbeugte.
So wie es auch Bundespräsident Steinmeier oder der Sänger Max Raabe taten. Der Bariton sang – auf Wunsch Friedländers – das Lied »Irgendwo auf der Welt« von Werner Richard Heymann. »Irgendwo auf der Welt«, heißt es darin, »fängt mein Weg zum Himmel an / Irgendwo, irgendwie, irgendwann«.