Interview

»Berlin ist zu meiner Realität geworden«

Shoshana Simons Foto: Stephan Pramme

Interview

»Berlin ist zu meiner Realität geworden«

Die Filmemacherin Shoshana Simons über ihre Arbeit, das Schtetl und die Jüdische Kunstschule

von Pascal Beck  11.09.2025 17:19 Uhr

Frau Simons, Sie sind Filmemacherin und vor einem Jahr aus den USA nach Berlin gezogen. Sind Sie gut angekommen?
Berlin ist zu meiner Realität geworden. Ich sehe hier eine Zukunft für mich. Ich weiß zwar nicht, für wie lange, aber vorerst bleibe ich.

Warum Berlin? Und warum die Jüdische Kunstschule, die vom Institut für Soziale Plastik ins Leben gerufen wurde, um jüdischen und antisemitismuskritischen Studierenden einen geschützten Raum zu bieten?
Ich wollte im Ausland sein. Besonders als Jüdin in Europa zu leben, wirft für mich verschiedene und wichtige Fragen auf. Für die jüdische Kunstschule habe ich mich entschieden, weil ich sowohl meine jüdische als auch meine künstlerische Gemeinschaft erweitern wollte.

Sie wollten also in einem jüdischen Umfeld arbeiten?
Ich arbeite oft in einem nichtjüdischen Umfeld. Im jüdischen Kontext künstlerisch arbeiten zu können, ist für mich daher etwas Besonderes.

Gibt es so etwas wie einen roten Faden in Ihren Arbeiten?
Ja, das Thema Befreiung. Es entspringt größtenteils der Frage, was Befreiung für mich als jüdische Frau in der Moderne bedeutet. Mich interessiert, in welcher Beziehung mein Wohlergehen, mein Leiden und die radikalen Brüche der jüdischen Geschichte in Bezug auf Sprache, Kultur und Ort zueinanderstehen. Das hat meine Arbeit definitiv beeinflusst.

Was meinen Sie konkret mit Befreiung?
Befreiung von psychischem Leiden. Es hat oft komplexe Ursachen, die eng mit der Geschichte und unseren heutigen Realitäten verflochten sind. Ein Thema meiner Arbeit ist es, zu verstehen, was hinter dem Leiden stehen könnte. Diese verborgenen Ursachen, insbesondere im jüdischen Kontext mit seinen radikalen Brüchen und Verlusten, gilt es zu finden. Wie lassen sich psychische Probleme von heute anhand der jüdischen Geschichte verstehen? Das zieht sich durch meine gesamte Arbeit.

Woran arbeiten Sie aktuell?
Mein aktuelles Werk heißt »50 Voices of the Shtetl Multiverse«. Es ist ein Prequel zu einem größeren Film, den ich im Frühjahr drehen möchte: »The Shtetl Multiverse«. Darin geht es um drei jüdische Frauen aus der Diaspora, die alle Vorfahren aus dem Schtetl haben. Sie treffen sich in einem alten Schtetl im Norden Litauens, um ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Befreiung zu ergründen. Wir werden eine Woche dort gemeinsam verbringen.

… in Zagare, richtig?
Genau. Die drei Frauen werden während unserer gemeinsamen Zeit dort viele Aktivitäten durchführen. Vom Tagebuchschreiben über Dialogszenen und Bewegungen bis hin zu traditioneller jüdischer Musik. Ein konkretes Beispiel: Sie werden sich Archivbilder von Frauen aus dem Schtetl ansehen, deren Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen nachahmen und schauen, was das in ihnen auslöst. Das ist mein größeres Projekt.

Und das kleinere?
Das ist »50 Voices of the Shtetl Multiverse«. Dafür habe ich Interviews mit jüdischen Frauen aus der Diaspora geführt. Ich habe über 50 Stunden Interviewmaterial. Alle Frauen haben Vorfahren aus dem Schtetl. Ich habe sie nach ihren Kindheitserfahrungen mit dem Jüdischsein und ihren Herausforderungen mit der modernen Welt gefragt.

Warum gerade Zagare?
Ich habe litauisch-jüdische Wurzeln. Zagare ist eines der ältesten Schtetl in Litauen und verfügt über einige gut erhaltene jüdische Gebäude.

In welchem Zusammenhang stehen für Sie Schtetl und Befreiung?
Bis vor weniger als 100 Jahren gab es in ganz Osteuropa noch Schtetl. Ihre Zersplitterung in der Diaspora ist ein sehr junges Phänomen. Für mich ist das Leben im Schtetl eine Art Gegenteil zu meinem heutigen Leben. Ein Teil des radikalen Bruchs in der jüdischen Geschichte ist die Bewegung vom Schtetl hin zur Moderne. Der Film hinterfragt, wie Befreiung mit dieser Art von radikalem Bruch verflochten ist und was das für diese drei Frauen bedeutet. Ich sehe das Leben im Schtetl als geprägt von einer geschlossenen Welt, von Strukturen, von Ritualen, also das genaue Gegenteil zur Gegenwart. Eine der Fragen meines Films lautet: Sehen Sie sich selbst als freier als Ihre Vorfahren? Fast alle Frauen sprachen in den Interviews davon, dass sie mit einem Mangel an Struktur oder Gemeinschaft zu kämpfen hätten. Das fand ich interessant. Ich denke, die Schtetl sind eine gute Quelle, um die unterschiedlichen Vorstellungen von Befreiung in der Diaspora zu verstehen.

Mit der 27-jährigen Filmemacherin sprach Pascal Beck.

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