Interview

»Alle Stimmen sind uns wichtig«

Anja Olejnik (2.v.r.) hofft, dass viele an der Umfrage zur Stimmung in der jüdischen Gemeinschaft teilnehmen. Foto: Gregor Matthias Zielke

Frau Olejnik, gemeinsam mit dem Jewish Joint Distribution Committee (JDC) und »infas« befragt der Zentralrat der Juden für das »Gemeindebarometer« zum zweiten Mal ano­nym Jüdinnen und Juden zum Gemeindeleben und zur jüdischen Gemeinschaft. Was möchten Sie genau herausfinden?
Wir möchten vor allem sehen, wie die Stimmungslage ist, wie die Einstellungen und Gefühle gegenüber der jüdischen Gemeinschaft und den Gemeinden sind. Es gibt einige Fragen zur Demografie, zur jüdischen Identität, zur Teilnahme an Programmen in den Gemeinden, bei regionalen, bei überregionalen, aber auch bei Programmen des Zentralrats und der ZWST, zur Zufriedenheit mit den Angeboten, zu Wünschen, Vorstellungen und Kritik an allen Akteuren des jüdischen Lebens. Und wir erwarten oder erhoffen uns da wirklich tiefe Einblicke in all diese Bereiche, auf deren Basis wir dann möglicherweise neue Ansätze entwickeln oder strategische Entscheidungen treffen können.

An wen richtet sich die Umfrage?
An alle Jüdinnen und Juden, die 16 Jahre oder älter sind. Ob Gemeindemitglieder oder nicht, auch an Personen mit jüdischem Vater. Wir wollen auch Menschen ansprechen, die mit den Gemeinden oder Gemeindestrukturen wenig zu tun haben, an Israelinnen und Israelis in Deutschland. Alle Stimmen sind uns wichtig. Deshalb haben wir die Umfrage auch auf Deutsch, Russisch und Englisch vorbereitet.

Wie wollen Sie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreichen?
Über Gemeindezeitungen, Newsletter, Websites. Alle jüdischen Gemeinden haben bereits im Dezember 2023 die Materialien bekommen. Wir nutzen natürlich auch unsere Social-Media-Kanäle und jüdische Gruppen in den sozialen Medien. Auch persönliche Kontakte sind wichtig, Weiterempfehlungen, um einfach eine breite Gruppe, auch Altersgruppe, zu repräsentieren. Wir wünschen uns Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus großen und kleinen Gemeinden. Dann können wir auch aussagekräftige Analysen machen.

Wie lange dauert es für jeden Einzelnen, an der Umfrage teilzunehmen?
Man sollte sich zwischen zehn und 15 Minuten Zeit nehmen. Es ist ja eine Umfrage, die in die Tiefe gehen will.

Das erste Gemeindebarometer lief von 2019 bis 2020 und hatte unter anderem die Mitgliederzahlen der Gemeinden im Fokus. Was steht bei diesem Barometer im Mittelpunkt?
Wir möchten herausarbeiten, wo es Potenziale und Chancen gibt. Wie sind Menschen überhaupt mit dem Judentum, miteinander, mit der Gemeinde, mit der Gemeinschaft, mit den Verbänden und Organisationen verbunden – oder eben nicht? Gerade in den großen Städten leben viele Jüdinnen und Juden, die keine Gemeindemitglieder sind. Ein anderer Schwerpunkt soll auf dem Engagement innerhalb einer Gemeinde liegen. Zu guter Letzt erhoffen wir uns auch einen Vergleich zum ersten Gemeindebarometer.

Welche Aspekte werden beim aktuellen Gemeindebarometer noch relevant sein?
Fragen wie: Was hat sich in der Zeit nach der Pandemie getan? Wie gehen die Gemeinden mit Geflüchteten um? Und: Welche Auswirkungen hatte der 7. Oktober 2023 auf die jüdische Gemeinschaft?

Welches Ergebnis aus der ersten Umfrage wurde praktisch umgesetzt – haben Sie dafür ein Beispiel?
Das Interesse bei den Gemeinden war nach der ersten Umfrage sehr hoch. Fragen wie: »Was heißt das denn konkret für meine Gemeinde?« oder »Wie können wir das umsetzen?« hören wir immer wieder. Daraus hat sich auch unser Projekt, das Gemeindecoaching, entwickelt. Darin analysieren wir die Herausforderungen und Probleme in der jüdischen Gemeinschaft und begleiten Gemeinden individuell bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Strategien, Organisations- und Strukturentwicklung, Programmgestaltung und Netzwerkarbeit.

Was muss denn heute eine Gemeinde bieten, um noch attraktiv zu sein?
Es gibt Grundsatzaufgaben einer Gemeinde, eine jüdische Grundversorgung. Also religiöse Gottesdienste, eine Mikwe, eine Synagoge. Aber auch die jüdische Bildung, soziale Versorgung oder soziale Arbeit sind zentrale Themen. Jugendzentren sind enorm wichtig und die Frage, wie erreicht man junge Erwachsene, die dem Jugendzentrumsalter entwachsen sind. Gemeindeleben sollte lebens- und realitätsnah sein.

Was heißt das genau, wenn es um junge Gemeindemitglieder geht?
Ich glaube, es ist sehr wichtig, Personen, die sich dafür interessieren, auch aktiv mit einzubeziehen. Ihnen viel Spielraum zu geben, nicht an ihnen vorbei zu konzipieren und sich dann zu wundern, warum sie nicht am Gemeindeleben teilnehmen.

Was ist für junge Menschen am Gemeindeleben aus Ihrer Erfahrung heraus interessant?
Angebote, die für ihr Leben relevant sind. Vielleicht sogar eine Zusatzqualifikation. Reisen sind sehr beliebt, Vernetzung ist sehr beliebt, eigentlich alles, was den Horizont erweitert. Überregionale, internationale Programme sind auch sehr, sehr relevant. Es gibt ja nicht nur diese eine Zielgruppe, sondern es sind viele Subgruppen. Für manche geht es mehr um berufliches Netzwerken, andere wollen wirklich über das Judentum lernen, es für sich entdecken und erfahren. Deshalb müssen wir in jede einzelne Gemeinde gehen und sehen, was passt. Den jungen Menschen ist vor allem wichtig, so akzeptiert zu werden, wie sie sind. Keiner möchte und soll in der Gemeinde irgendetwas vorspielen, was sie oder er nicht ist. Man muss den Menschen zuhören und ihnen auf Augenhöhe begegnen.

Auf dem Gemeindetag wurde unter anderem diskutiert, wie man junge Leute besser in die Arbeit der Gemeinden einbindet. Was ist Ihre Beobachtung?
Es gibt ja bereits Gemeinden, in denen die junge Generation auch in den Gremien sitzt. Derzeit findet ein Wandel statt. Auch solche Prozesse haben wir begleitet, in denen also mehr junge Menschen gezielt gefördert werden. Ob sie dann in die Repräsentanz gehen oder in einen Vorstand, das ist eine individuelle Entscheidung. Aber: Man muss sie ernst nehmen, denn sie sind nicht erst die Zukunft, wenn sie alt sind, sondern sie müssen jetzt in die Gemeinden. Und genau dabei geht es um Rahmenbedingungen. Bei allen, die sich in irgendeiner Form in einer Gemeinde engagieren, fragen wir immer nach den Beweggründen.

Welche Tipps haben Sie für Gemeinden, die gerade junge Menschen stärker in ihre Struktur einbinden möchten?
Sie einfach gestalten lassen und ihnen auch erlauben, Fehler zu machen und sich auszuprobieren. Wenn es dann einmal nicht klappen sollte, dann darf man nicht sagen: »Das haben wir einmal versucht, hat nicht geklappt, das machen wir nicht mehr.« Interessierte Mitglieder sind für die Gemeinden eine wichtige Brücke, um zu erkennen: Wen oder was gibt es noch rund um die Gemeinde in der Region, in der Stadt? Oft sind das nämlich Vereine, informelle Gruppen, Studierendenverbände, kleine Organisationen. Und ich glaube, der einzige Weg für alle ist wirklich Vernetzung und Zusammenarbeit.

Gab es bei der Auswertung des ersten Gemeindebarometers einen Aspekt, der überraschend war?
Positiv überrascht hat uns alle, wie wichtig das Judentum – und auch schon die Gemeindemitgliedschaft – den Menschen ist. Das ist für viele wirklich ein emotionales Thema. Auch, dass es ein sehr großes Interesse an jüdischer Bildung gibt. Auf dieser Basis haben wir dann ein paar Empfehlungen formuliert. Dieses Ergebnis hat uns alle optimistisch gestimmt. Wir haben zudem festgestellt, dass, wenn es um die Stärkung oder Bildung der jüdischen Identität geht, der wichtigste Faktor Aufenthalte in Israel sind. Nichts prägt die jüdische Identität der jungen Menschen so stark und nachhaltig wie eine Reise nach Israel.

Mit der Leiterin des Projekts Gemeinde­coaching sprach Katrin Richter.

Wer sich an der Umfrage beteiligen möchte, kann dies unter folgendem Link tun: www.infas.de/erhebungen/online-umfrage-unter-juedinnen-und-juden-in-deutschland

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