Jubiläum

1700 und ein Jahr

Von Rahel Varnhagen bis Sarah Poewe: Köpfe der deutsch-jüdischen Geschichte und Gegenwart Foto: Montage

Im vergangenen Jahr hieß es »3-2-1-Los!«, als man sich daran erinnerte, dass die magische Zahlenkombination 321 für die ersten überlieferten jüdischen Spuren unter den alten Germanen steht. Nun, 1700 Jahre und wohl ebenso viele Klezmerkonzerte, Kochkurse und Kunstinstallationen später, wird man Bilanz ziehen. Was hat es gebracht, das Jubiläumsjahr? Ist man vielleicht ein bisschen weiser als zuvor?

Eines ist sicher: So viele lokale und überregionale Initiativen zur deutsch-jüdischen Geschichte hatte es vorher zwischen Bad Oldesloe und Emmendingen noch nie gegeben. Dafür haben zahlreiche Initiatoren und Mitarbeiter ihre Kräfte eingesetzt. Sie wissen genau, dass das Wichtigste erst beginnt.

initiativen Es muss jetzt daran gearbeitet werden, dass es sich bei diesen Initiativen nicht um »Einjahresfliegen« handelt, sondern dass es auch im nächsten und im übernächsten Jahr weitergeht mit dem Lernen und Kennenlernen. Erst dann kann man von einem nachhaltigen Erfolg sprechen. Viele der Initiativen sind, auch pandemiebedingt, ohnehin auch zukünftig abrufbar. Die zahlreichen online gehaltenen Vorträge, die neu erstellten Webseiten und die Podcasts werden alle im Internet abrufbar bleiben.

Was also bleibt hängen? Ich würde drei Lehren aus den zahlreichen Begegnungen mit 1700 Jahren deutsch-jüdischer Geschichte herausstreichen. Da ist zunächst einmal die Tatsache, dass es sich trotz aller Diskriminierungen, Ausgrenzungen, Entrechtungen, Vertreibungen und Ermordungen zwar nicht um eine identisch erlebte, aber doch um eine gemeinsame Geschichte handelt.

Man sollte weder von jüdischen »Mitbürgern« noch von dem jüdischen »Beitrag« zur deutschen Kultur sprechen.

Eben keine Geschichte von Juden und Deutschen, sondern eine Geschichte jüdischer und nichtjüdischer Deutscher. Daher sollte man weder von jüdischen »Mitbürgern« noch von dem jüdischen »Beitrag« zur deutschen Kultur sprechen, denn was Juden in Deutschland geleistet haben, haben sie genauso als Deutsche geleistet wie ihre katholischen oder evangelischen Nachbarn.

»Shared History« Oftmals lässt sich diese Geschichte nicht fein säuberlich trennen, so wie es der Historiker Peter Gay einmal formulierte: Ist etwa die Musik der Dreigroschenoper (komponiert von Kurt Weill) jüdisch und das Libretto (geschrieben von Bertolt Brecht) nicht? Wie eng verwebt diese Geschichte ist, zeigte über das gesamte Jahr hinweg in beeindruckender Weise der Internet-Aufritt »Shared History« des Leo-Baeck-Instituts anhand jeweils eines ausgewählten Objekts pro Woche, vom mittelalterlichen Hochzeitsring über Moses Mendelssohns Brille bis hin zu den Orden jüdischer Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg und der Robe des hessischen Staatsanwalts Fritz Bauer.

Eine zweite Lehre ist die Erkenntnis, dass eine Gruppe, die seit so langer Zeit präsent ist, gleichzeitig auch durch stete Migration geprägt sein kann. Denn diese 1700 Jahre deutsch-jüdischer Geschichte zeichneten sich nicht durch besondere Sesshaftigkeit aus. Einige Juden kamen mit den Römern, danach verschwinden ihre Spuren erst einmal, bis im Mittelalter wieder andere die Alpen überqueren.

Am Ende des Mittelalters wurden ihre Nachkommen aus vielen Städten und Fürstentümern vertrieben und flüchteten häufig nach Polen, bis deren Nachkommen in der Frühen Neuzeit aus dem Osten wieder nach Deutschland zurückkamen. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es schon wieder neue Einwanderungsbewegungen aus Osteuropa und Russland, dann nochmals nach der Schoa und zuletzt nach Auflösung der Sowjetunion.

vorfahren Heute können die Juden in Deutschland ihre Vorfahren nach Russland und in die Ukraine, nach Georgien und Litauen, nach Polen und Rumänien, nach Israel und die USA, nach Marokko und den Iran zurückverfolgen – um nur einige Herkunftsländer zu nennen. Mit anderen Worten: Die Juden als ein Kollektiv sind schon lange hier – und doch sind sie als Individuen häufig erst vor Kurzem angekommen.

Zuletzt noch die große Frage, der Elefant im Raum sozusagen: Was leistete das Jubiläumsjahr mit seinen zahlreichen Aktivitäten zur deutsch-jüdischen Geschichte im Kampf gegen den Antisemitismus? Wer sich vorstellt, dass 1701 Jahre, nachdem Juden im Stadtrat von Köln sitzen durften, der Antisemitismus verschwindet, die AfD sich auflöst und Israel nicht mehr dämonisiert wird, der wird gewiss enttäuscht werden.

Wissen vermitteln, Vielfalt zeigen und sich in der Öffentlichkeit selbstbewusst präsentieren – all das ist wichtig.

Wissen vermitteln, Vielfalt zeigen und sich in der Öffentlichkeit selbstbewusst präsentieren – all das ist wichtig. All die lobenswerten Initiativen des vergangenen Jahres können den Antisemitismus nicht aus der Welt schaffen, aber wenn es sie nicht gäbe, dann wäre er noch schlimmer. Das ist nur ein schwacher Trost, aber immerhin etwas.

Nun freuen wir uns schon einmal auf 2022. Denn das Jubiläumsjahr ist verlängert worden. Macht ja auch Sinn, denn wer weiß, nach welchem Kalender sich seinerzeit die ersten Juden gerichtet haben, die sich über die Alpen schleppten? Vielleicht begann ja das neue Jahr für sie, wie einst für die Römer, im März – oder wie im jüdischen Kalender erst im Herbst. Auf jeden Fall noch viel Zeit, dies und mehr zu lernen, sich nicht nur im virtuellen Raum zu begegnen – und natürlich den Antisemitismus endgültig aus der Welt zu schaffen.

Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur.

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