G’ttesdienst

Zusammen mit den Sündern

Der Schofar wird nicht an Erew Jom Kippur geblasen, sondern einen Tag später – nach dem Ende des Feiertags. Foto: Getty Images/iStockphoto

Zu einem amerikanischen Rabbiner kam kurz vor den Hohen Feiertagen aufgeregt ein Mann aus seiner Gemeinde und berichtete ihm von einem großen Problem, das er festgestellt hatte: Seit seiner frühesten Erinnerung hatte er keinen einzigen Super Bowl verpasst, und dieses Jahr fällt dieser ausgerechnet auf den Vorabend von Jom Kippur, wenn Kol Nidre gebetet wird. Einerseits möchte er doch nicht auf das Kol Nidre verzichten. Andererseits: Wie könnte er das Spiel verpassen?

»Das ist doch in modernen Zeiten ganz einfach«, antwortete ihm der Rabbi, »heutzutage kann man doch aufnehmen und es sich später anschauen!« Der Mann ist von der Lösung begeistert: »Das ist fantastisch! Daran habe ich nicht gedacht – können Sie dann bitte das Kol Nidre für mich aufnehmen?«

Israel ist im Lockdown, und auch andernorts können viele beim Kol Nidre nicht dabei sein.

Die Geschichte ist schon recht alt und mag vielen bekannt sein, doch angesichts von Corona erhält sie dieses Jahr einen besonders aktuellen Bezug. Schon zu Pessach wurde in Israel und über dessen Grenzen hinaus eifrig diskutiert, ob eine Teilnahme über »Zoom« oder andere technische Wege möglich wäre.

LOCKDOWN Nun befindet sich das Land wieder im Lockdown und unter strengen Auflagen, und auch andernorts sehen sich viele gezwungen, beim viel geliebten Kol Nidre in der Synagoge nicht mit dabei sein zu können. Doch ist das wirklich so schlimm? Warum ist das Kol Nidre überhaupt ein derart zentrales Gebet, dass so viele Beter dazu in die Synagogen strömen?

Tatsächlich ist das leicht zu hinterfragen, denn das Kol Nidre hat keinen klaren Ursprung. Zum ersten Mal wird es im neunten Jahrhundert d.Z. im Siddur von Rabbiner Amram Gaon erwähnt – für jüdische Verhältnisse ist das nicht lange her.

Gerade einmal eine vage Andeutung gibt es im Babylonischen Talmud in Nedarim 23b: »Wer möchte, dass seine Gelübde im kommenden Jahr keinen Bestand haben sollen, sage zum Neujahrsbeginn: Jedes Gelübde, das ich künftig geloben werde, möge ungültig sein.«

Zudem ist das Kol Nidre nicht einmal ein wirkliches Gebet! Und davon gibt es an Jom Kippur eigentlich genug – ganze fünf, mehr als an irgendeinem anderen Tag im Jahr.

POPULARITÄT Doch die meisten dieser Gebete genießen weniger Popularität als das Kol Nidre – obschon sie viel weiter zurückdatieren, halachisch betrachtet wesentlich wichtiger sind und es bei ihnen inhaltlich um den Gesamtsinn des Versöhnungstages geht: Bekenntnis der Sünden und Bitte um Vergebung.

Im Kol Nidre hingegen geht es um die Annullierung von Gelübden, was im Vorfeld eine wichtige Vorbereitung sein mag (um mit guten Vorsätzen vor G’tt nicht als Lügner dazustehen), aber trotzdem nicht den hauptsächlichen Inhalt von Jom Kippur wiedergibt.

Zudem ist die Wirkung des Kol Nidre höchst umstritten. Schon unter den Gaonim, also zur Zeit seiner ersten Erwähnung, entbrannte ein Streit darüber, ob das Kol Nidre gesagt werden soll (Rabbiner Saadija Gaon und Rabbiner Amram Gaon), oder ob es besser zu unterlassen sei (Rabbiner Natrunai Gaon und Rabbiner Hai Gaon). Die Gegner führten an, dass die Vorfahren es auch nicht gesagt hätten, außerdem befürchteten sie einen leichtfertigen Umgang mit Gelübden.

GELÜBDE Auch Rabbenu Tam meinte, Gelübde ließen sich nicht pauschal durch ein Kol Nidre lösen. Um ein Gelübde halachisch korrekt zu lösen, müsse es vor einem Beit Din spezifisch aufgeführt, erörtert und auf bestimmten Wegen bereut werden. Eine pauschale Auflösung von Gelübden, ohne Detaillierung, Reue, und dazu noch selbst vorgenommen (da ja jeder den Text für sich selbst spricht), habe jedoch nicht die gewünschte Wirkung.

Deswegen, so Rabbenu Tam, sei das Kol Nidre nur auf das kommende Jahr anzuwenden – als vorbeugende Maßnahme, dass kommenden Gelübden von vornherein jegliche Gültigkeit entzogen wird (»Mesirat Modaa«).

Nur aus der Kraft der Gemeinschaft ergibt sich ein Anspruch auf Vergebung der Sünden.

Rabbenu Ascher, bekannt als der »Rosch«, war anderer Auffassung und befasste sich mit den Fragen des Rabbenu Tam (Joma 88, Siman 28). Seine Antwort auf diese ist bemerkenswert: Der Umstand, dass die Gemeinde das Kol Nidre gemeinschaftlich betet, um Reue zu zeigen, und auch gemeinschaftlich die Auflösung der Gelübde vornimmt, indem jeder den Text für sich mitsagt, ersetzt die Notwendigkeit, vor einem Beit Din von dem Gelübde entbunden zu werden.

Es ist also nicht die Person selbst, sondern die Gemeinschaft, die jedem Einzelnen dessen Gelübde annulliert.

popularität Aufgrund all dieser Überlegungen bleibt unklar, weshalb ausgerechnet das Kol Nidre diesen außergewöhnlichen Status an Popularität erreicht hat. Noch unklarer sind die Sätze, die direkt auf das Kol Nidre folgen und zu diesem dazugehören: »Und es sei der ganzen Gemeinde Israel und dem Fremdling, der unter ihnen wohnt, verziehen. (…) Und der Ewige sprach: Ich habe gemäß deinem Worte verziehen!« Der letzte Satz wird mit Nachdruck und spezieller Betonung dreimal gesprochen.

Eigentlich eine Frechheit: Noch haben wir die Gebete des Tages, ja, den Heiligen Tag des Jom Kippur selbst, nicht wirklich begonnen, und schon verkünden wir lautstark die erhabenen Worte, die wir eigentlich für das Ende des Tages anstreben: »Und der Ewige sprach: Ich habe verziehen.«
Gehört da nicht zuerst noch ein Prozess dazu, der Bekenntnis, Reue und inneren Wandel voraussetzt, um vollkommene Umkehr zu erreichen, damit schließlich vergeben werden kann (siehe Maimonides Hilchot Teschuwa Kapitel 1 und 2)?

Es ist also nicht die Person selbst, sondern die Gemeinschaft, die jedem Einzelnen dessen Gelübde annulliert.

Die obige Antwort des »Rosch« auf Rabbenu Tam bietet uns auch einen möglichen Schlüssel, um die anderen Fragen beantworten zu können: Der Schlüssel liegt in der Kraft der Gemeinschaft!

So wie das Kol Nidre nur kraft der Gemeinschaft seine Wirkung zur Annullierung der Gelübde erhält, so ergibt sich auch aus der Kraft der Gemeinschaft der Ansatz und ein gewissermaßen berechtigter Anspruch auf Vergebung der Sünden, noch bevor der weitere (trotzdem unverzichtbare) Prozess der Umkehr eingesetzt hat.

Wir stehen gemeinsam vor G’tt, wie Kinder vor ihrem Vater, und bekennen: Ja, wir haben gesündigt und uns nicht immer richtig verhalten, aber wir halten zusammen, stehen zueinander und füreinander ein! Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist wesentlich stärker als einzelne Vergehen, und sie sind der Ansatz, um auf Vergebung hoffen zu dürfen.

EINGANGSWORTE Besonders deutlich machen dies die Eingangsworte zum Kol Nidre: »Mit Zustimmung des Allgegenwärtigen und mit Zustimmung der Gemeinde … erklären wir es für erlaubt, mit den Sündern zu beten.«

Wenigstens in unseren Herzen vereint können wir in diesem Jahr vor G’tt stehen.

Als Gemeinschaft verzichten wir auch nicht auf die Sünder und schließen sie explizit in unser Gebet mit ein, erklären, dass sie nicht nur beim gemeinsamen Gebet nicht stören, sondern höchst erwünscht, ja, sogar erforderlich sind. Ebenso wie man in einer Familie nicht bereit ist, auf ein Kind oder Geschwister zu verzichten und sie aufzugeben, auch wenn sie sich nicht entsprechend verhalten.

Vielleicht ist genau dies der Grund, dass das Fernbleiben vom Kol Nidre besonders schwerfällt und es dieses Jahr, wo notwendig, wohl nur mit großem Unwillen akzeptiert wird.

Doch können wir wenigstens in unseren Herzen vereint vor G’tt stehen und dieses Jahr ganz besonders zu Ihm rufen: »Schau auf uns von Deiner Stätte und siehe, wie schmerzhaft für uns die Trennung ist! Im Herzen sind wir vereint, eine Familie – wir wollen es aber auch wieder physisch sein. Bitte, schenke uns diese Möglichkeit wieder, bald, noch lange vor dem nächsten Kol Nidre!«

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

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