Neulich beim Kiddusch

Zu viel des Guten

Hoch die Gläser Foto: imago

Das war ein denkwürdiger Kiddusch. Vor allem, weil ich mich an den Rückweg von der Synagoge bis zum Hotel kaum noch, oder nur noch sehr schemenhaft erinnern kann. Eine klare und detaillierte Erinnerung habe ich erst wieder an den Anruf meiner Frau, die mir eine gute Woche wünschte. Da waren nicht nur drei Sterne am Himmel, sondern ungefähr alle. Ein sehr extremes Beispiel von Schabbesschlaf war das.

Der kleine Ron feierte seine Barmizwa, und sicher wäre das eine Standardfeier geworden, wenn ich nicht die Gorenstejns getroffen hätte. Sie saßen mir zufällig gegenüber, und wir kamen schnell ins Gespräch. Das war leicht, denn Herr Gorenstejn ist ein sehr kommunikativer Mensch, der eine kumpelige Art an den Tag legt, aber immer noch höflich und korrekt bleibt. Er und seine Frau sind Mitte, Ende 50 und kommen aus einer interessanten Gegend. Also feuerte ich Zillionen Fragen zu ihrer Heimatstadt Baku ab.

Wodka Je interessanter das Gespräch wurde, desto mehr schienen mir die beiden zu vertrauen. Irgendwann griff Frau Gorenstejn unter den Tisch und holte zwei Flaschen nach oben – zur Freude der anderen Gäste, die direkt ihre Gläser in unsere Richtung schoben. »Das ist etwas ganz Feines«, sagte er und alle nickten. »Habe ich selbst hergestellt.« Er füllte mein Glas zur Hälfte mit einer Flüssigkeit, die ich für Wodka hielt.

Wir alle nahmen den ersten Schluck. »Le Chajim – auf Ron!« Wonach das Zeug schmeckte, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht Anis? Jedenfalls brannte es. Mein Glas blieb nicht lange leer, irgendwoher schenkte jemand nach. Ich nippte vorsichtig.

Nach kurzer Zeit war Herr Gorenstejn voll wie ein Eimer, und in meinem Kopf drehte sich alles. Wenn das so weitergeht, dachte ich, schlägt mein Kopf in kurzer Zeit auf der Tischkante auf. Und so zog ich irgendwann die Notbremse.

Obwohl Frau Gorenstejn in hoher Frequenz einschenkte und trank, war sie offenbar noch bei vollem Bewusstsein. Wie sie sagte, käme das Zeug immer zu besonderen Anlässen auf den Tisch. Woraufhin ihr Mann lallte: »Schabbes ist ein guter Anlass.« An den Entschluss zu gehen, kann ich mich noch genau erinnern. Dann der Filmriss.

Pianistin Dem Ehepaar Gorenstejn musste der Konsum besser bekommen sein, denn sie hatten noch Einzelheiten parat, als Frau Gorenstejn nach etwa zwei Wochen anrief und meiner Frau erzählte, sie hätte eine wunderbare Klavierlehrerin für meinen Sohn gefunden.

Wie sie berichtete, hätte ich sie an dem besagten Schabbat danach gefragt. Sie hatte erzählt, sie sei Pianistin und verfüge über gute Kontakte. Da sie ohnehin ihre Freundin besuche, schlug sie vor, uns der Frau persönlich vorzustellen.

Ich konnte mich nicht mehr klar daran erinnern, um nicht zu sagen, überhaupt nicht. Aber trotzdem fanden wir es nett, und so packte ich als Dank für die Mühe eine Flasche Champagner für Frau Gorenstejn ein. Doch sie war nicht begeistert, als ich ihn beim Abschied überreichte. »Mein Mann und ich trinken nur sehr wenig Alkohol. Es ist sehr gewagt, jemandem Spirituosen zu schenken.« Aus dieser Geschichte habe ich gelernt: Vorsicht mit Alkohol! In vielerlei Hinsicht.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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