Wenn ein Kind das Radfahren erlernt, dann bringt es wenig, wenn die Eltern es aus Vorsicht umklammern und dafür sorgen, dass dem Kind ja nichts passiert. Erst wenn sie ihm ausreichend Freiraum lassen und das Kind (noch leicht gestützt von den Armen der Eltern) eigene Bewegungen machen kann, wird es lernen, sich auf zwei Rädern zu halten. Das ist sehr vereinfacht ein Konzept der jüdischen Mystik. Ein allgegenwärtiger G’tt, der sich zurückzieht und Platz lässt. Ein unendliches Licht, das sich verdunkelt, damit etwas anderes leuchten kann. Der hebräische Begriff »Zimzum« (wörtlich »Zusammenziehung« oder »Einschränkung«) versucht dies zu beschreiben.
Im 16. Jahrhundert formulierte Rabbiner Jitzchak Luria (um 1534–1572), auf den die moderne Kabbala zurückgeht, grundlegende Gedanken dazu, die wiederum dessen Schüler Rabbiner Chajm Vital (1542–1620) in seinem Buch Etz Chajim aufschrieb. Bevor die Welt entstand, gab es nur das unendliche gʼttliche Licht, das »Or ejn sof«. Kein leerer Raum, kein »Außerhalb« – alles war von G’tt erfüllt. Doch wie kann etwas Neues entstehen, wenn kein Platz dafür ist?
Die Antwort lautet: G’tt zieht sich zurück. In Etz Chajim heißt es dementsprechend: »Er kontrahierte sich, gesegnet sei Er, in den Mittelpunkt, genau an jenem Punkt, wo Sein Licht in seinem absolutesten Zustand war … Und dann blieb ein leerer Raum zurück.« Das »Zusammenziehen« macht die weitere Schöpfung erst möglich. Wenn schon alles erfüllt wäre, wo sollte die Schöpfung dann stattfinden? Die Welt existiert nicht trotz, sondern wegen einer g’ttlichen Selbstbeschränkung.
Wenn schon alles von G’tt erfüllt wäre, wo sollte die Schöpfung dann stattfinden?
Mit diesem Prinzip könnte man auch Stellen in der Tora neu lesen. Etwa wenn es im 2. Buch Mosche (40, 34–35) heißt: »Eine Wolke bedeckte dann das Stiftszelt, und die Herrlichkeit des Ewigen füllte die Wohnung. Mosche konnte nicht hineingehen in das Stiftszelt; denn die Wolke war gelagert darüber, und die Herrlichkeit des Ewigen füllte die Wohnung.«
Doch wie weit geht dieser Rückzug? Ist der leere Raum wirklich ohne G’tt, oder bleibt G’tt auch dort anwesend und nur verborgen? Hier geben unterschiedliche Strömungen unterschiedliche Antworten. Die wörtlichere Auslegung sagt: G’tt hat einen Teil seiner Präsenz aufgegeben, um der Schöpfung Platz zu machen. Bei der metaphorischen Lesart, die besonders im Chassidismus verbreitet ist, bleibt G’tt allgegenwärtig, aber seine Gegenwart ist verhüllt. Die »Leere« ist nur scheinbar – alles existiert letztlich in G’tt – ist aber real. Es gibt G’ttes Sicht auf das Universum und unsere menschliche Sicht.
Orte, die G’tt verlassen hat
Wenn »Zimzum« wörtlich gemeint ist, dann gibt es Orte, die G’tt »verlassen« hat – für Menschen eine beunruhigende Vorstellung. Ist es nur metaphorisch, bleibt die Frage: Warum braucht ein allmächtiger G’tt überhaupt so eine Inszenierung? Vielleicht, so antworten die Kabbalisten, weil wahre Beziehung Freiheit braucht. Ein Universum, das von G’tt voll ausgefüllt wird, hätte keine Eigenständigkeit.
Interessanterweise kehrt die Idee des Zimzum heute im zwischenmenschlichen Bereich wieder. Im Talmud (Sota 5a) heißt es: »Über jeden Menschen, der Hochmut in sich trägt, sagte der Heilige, gepriesen sei Er: Er und ich können nicht zusammen in der Welt verweilen.« Hier wird aus der komplexen mystischen Idee eine psychologische: Wer sich selbst zurücknimmt, kann dem anderen – und damit letztlich auch G’tt – begegnen.
Wer wirklich zuhören will, muss schweigen können
Der Psychologe Mordechai Rotenberg (geboren 1932) sieht in Zimzum ein Modell für gelungene Kommunikation: Wer wirklich zuhören will, muss im ersten Schritt schweigen können. Eltern, die ihren Kindern Raum lassen, Lehrer, die nicht jede Lücke sofort füllen. Dies sei eine Art zwischenmenschliches Zimzum.
Die Gegenwart ist von zwei Extremen geprägt. Einerseits vermeiden wir aktiv die Leere. Wir suchen beständig nach Beschäftigung und Ablenkung. Zugleich gibt es einen Markt für echte Präsenz und das Nutzen des Augenblicks mit Schlagwörtern wie »Quality Time« oder »Achtsamkeit«. Hier erinnert uns das Konzept »Zimzum« daran, dass wahre Fülle oft aus bewusster Begrenzung entsteht. Ohne Zurückhaltung kein Dialog, ohne Leere keine Schöpfung. Vielleicht ist das die Weisheit des Zimzum: dass manchmal gerade das, was fehlt, etwas möglich macht.