Talmudisches

Zeitverschwendung

Foto: Getty Images

Talmudisches

Zeitverschwendung

Schon unsere Weisen haben auf den Wert jeden Augenblicks hingewiesen

von Yizhak Ahren  21.06.2024 09:43 Uhr

Der Tannait Hillel der Ältere – er lebte 100 Jahre vor der Zerstörung des Zweiten Tempels – bemerkte im Hinblick auf das vorgeschriebene Toralernen: »Sage nicht: Wenn ich mehr Zeit habe, dann werde ich lernen, denn vielleicht wirst du diese Zeit niemals haben« (Sprüche der Väter 2,5). Rabbiner Seckel Bamberger (1863–1934) kommentierte Hillels Satz mit folgenden Worten: »Man muss regelmäßig täglich eine Zeit dem Toralernen widmen und dies nicht von der jeweiligen Tätigkeit im Geschäft abhängig machen, ebenso wie man das Toralernen nicht dem sorgenfreien Alter vorbehalten darf, da der Mensch seine Lebensdauer nicht kennt und hierdurch die Hauptaufgabe des Lebens unerfüllt lassen könnte.«

Rabbiner Ovadia Yosef (1920–2013) hingegen entdeckte in Hillels Äußerung einen wichtigen Hinweis für die tägliche Praxis. Gibt es im Alltag einige ruhige Momente, sollten diese nicht vergeudet werden, indem man sich einredet, dass sich in dieser kurzen Zeitspanne nicht lernen ließe. Beispielsweise kann jemand, der an einer Haltestelle auf den Bus wartet, eine Mischna studieren oder einen Psalm rezitieren, statt einfach untätig herumzustehen.

Auf den Wert eines jeden Augenblicks hat Hillel auch in einer anderen Mischna aufmerksam gemacht: »Wenn nicht jetzt, wann denn?« (Sprüche der Väter 1,14). Diese bekannte rhetorische Frage, die sogar von US-Präsident John F. Kennedy zitiert wurde, ist schon oft und sehr unterschiedlich interpretiert worden. So war Maimonides, der Rambam (1135–1204), überzeugt, Hillel habe mit dem Wort »jetzt« die Jugendzeit gemeint. Seiner Ansicht nach lehrt Hillel in unserer Mischna, dass sich jeder junge Mensch intensiv darum bemühen sollte, gute Eigenschaften zu erwerben, um altruistischer zu werden. Denn mit zunehmendem Alter verfestige sich der Charakter und ist nicht mehr so leicht zu korrigieren.

Sowohl Rabbiner Bachja ben Ascher (1255–1340) als auch Rabbiner Ovadia aus Bartenura (1445–1515) kannten die Interpretation des Rambam. Dennoch entwickelten beide eine weitere Deutung des Begriffs »jetzt«. Hillel habe an unsere Welt im Gegensatz zur zukünftigen Welt gedacht, so ihr Ansatz. Nur in dieser Welt können wir segensreich wirken und Verdienste erwerben. Nach dem Tod ist uns diese Möglichkeit selbstverständlich nicht mehr gegeben.

Auf die Frage, wann man gute Vorhaben verwirklichen sollte, lautet die Antwort: im richtigen Augenblick.

Das führt zu der Frage, wann man gute Vorhaben verwirklichen sollte. Im richtigen Augenblick, lautet die Antwort. Wie der Judaist Avigdor Shinan erklärte, fordert Hillel keinesfalls undurchdachte, vorschnelle Handlungen. Gibt es jedoch keinen Grund für den Aufschub des Geplanten, dann ist die Zeit für die Ausführung des jeweiligen Projekts gekommen.

Hillels Ausspruch liegt also eine unausgesprochene Voraussetzung zugrunde, die Rabbiner Marcus Lehmann (1831–1890) näher ausführte: »Der Gottesdienst des Israeliten ist ein immerwährender, und die Zeit, die diesem ununterbrochenen Gottesdienst entzogen wird, ist unwiederbringlich verloren. Wer kann den unnütz oder schlecht verbrachten Augenblick zurückbringen? Daher frage dich stets: Wenn nicht jetzt, wann denn? Was du morgen tust, das kann nicht ersetzen, was du heute versäumt hast; denn der morgige Tag muss ja ohnehin der guten und nützlichen Tätigkeit geweiht sein.«

Wertvolle Zeit zu verschwenden, ist nicht nur unklug, sondern zugleich eine schwere Sünde. In der Gemara (Sanhedrin 99a) bezieht Rabbi Nehorai den Vers »Denn das Wort Gottes hat er verachtet« (4. Buch Mose 15,31) auf denjenigen, der in der Lage ist, sich mit der Tora zu befassen, stattdessen sich aber lieber mit nichtigen Dingen beschäftigt. Im Traktat Chagiga (5b) lesen wir, dass der Heilige, gepriesen sei Er, täglich über jeden weint, dem es möglich ist, sich mit der Tora zu befassen, dies jedoch unterlässt.

Auf die große Gefahr der Zeitverschwendung hat Hillel der Ältere bereits vor 2000 Jahren mehrmals eindringlich hingewiesen. Seine Mahnungen verdienen gerade in unserer Zeit viel Beachtung.

Israel

Rabbiner verhindert Anschlag auf Generalstaatsanwältin

Ein Mann hatte den früheren Oberrabbiner Jitzchak Josef um dessen religiöse Zustimmung zur »Tötung eines Aggressors« ersucht. Die Hintergründe

 24.08.2025

Re'eh

Freude, die verbindet

Die Tora zeigt am Beispiel der Feiertage, wie die Gemeinsamkeit gestärkt werden kann

von Vyacheslav Dobrovych  22.08.2025

Elul

Der erste Ton des Schofars

Zwischen Alltag und Heiligkeit: Der letzte Monat vor dem Neujahr lädt uns ein, das Wunderhafte im Gewöhnlichen zu entdecken

von Rabbiner Raphael Evers  22.08.2025

Talmudisches

Positiv auf andere schauen

Was unsere Weisen über den Schutz vor bösem Gerede und die Kraft positiver Gedanken lehren

von Diana Kaplan  21.08.2025

Naturphänomene

Entzauberung des Gewitters

Blitz und Donnergrollen wurden lange als Zorn der Götter gedeutet. Doch die Tora beendete diesen Mythos

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  21.08.2025

Fulda

Vor 80 Jahren - Schuldbekenntnis der Bischöfe nach dem Krieg

Sie stand im Zenit ihres Ansehens. Nach Kriegsende galt die katholische Kirche in Deutschland als moralische Macht. Vor 80 Jahren formulierten die Bischöfe ein Schuldbekenntnis, das Raum für Interpretationen ließ

von Christoph Arens  18.08.2025

Ekew

Nach dem Essen

Wie uns das Tischgebet lehrt, bewusster und hoffnungsvoller durchs Leben zu gehen

von Avi Frenkel  15.08.2025

Talmudisches

Granatapfel

Was unsere Weisen über das Sinnbild der Fülle lehren

von Chajm Guski  15.08.2025

Geschichte

Quellen des Humanismus

Wie das Gʼttesbild der jüdischen Mystik die Renaissance beeinflusste

von Vyacheslav Dobrovych  14.08.2025