Tag des Gerichts

Zeit der Ungewissheit

Das Leben ist manchmal wie ein Glücksrad. Foto: McKevin

Es gibt eine Geschichte aus der jüdischen Tradition, die gut zu Rosch Haschana passt. Reb Schmelke aus Nikolsburg und Reb Pinchas aus Frankfurt am Main fragten ihren geistigen Anführer Rebbe Dov Ber, den Maggid aus Meseritsch, wie es möglich ist, G’tt für die schlechten Dinge genauso zu danken wie für die guten Dinge, die uns Menschen widerfahren: »Die Rabbiner des Talmuds verpflichten uns, G’tt immer zu danken, sowohl für gute als auch für schlechte Botschaften. Wie kann dies von einem Menschen verlangt werden?«

Der Magid von Meseritsch schickte sie zu Reb Zuscha von Hanipoli. Sie fanden Reb Zuscha beim Pfeiferauchen auf der Veranda seines baufälligen Hauses.

BESCHEIDENHEIT Reb Schmelke und Reb Pinchas erklärten Reb Zuscha, warum sie ihn treffen wollten. Reb Zuscha war für seine Bescheidenheit und Heiligkeit bekannt und benutzte nie das Wort »ich«. Er sprach von sich selbst als Zuscha: »Zuscha versteht wirklich nicht, warum der Magid von Meseritsch Sie zu mir geschickt hat. Zuscha hat noch nie etwas Negatives erlebt. Sie sind am falschen Ort!«

Jeder wusste, dass Reb Zuscha, der schwach und kränklich war, sein ganzes Leben lang nichts als Elend und Not erlebt hatte. Aber jeder, der mit ihm in Berührung kam, sah, dass er eine ungeahnte innere Kraft und Freude in sich trug. Er verstand, dass alles, was uns auf unserem Lebensweg widerfährt, zu unserem Besten ist, um uns auf ein anderes Niveau zu erheben oder uns zu läutern.

An Rosch Haschana, dem Tag des Gerichts, steht viel auf dem Spiel.

Reb Zuscha erlebte in seinen Qualen die Liebe G’ttes, der uns von unserer geistigen Verunreinigung reinwaschen will. Eine intensive Reinigung wird manchmal von Schmerz, Unsicherheit, Angst und Trauer begleitet. Wenn wir uns mit der Gewissheit stärken, dass hinter all dieser Härte die Liebe G’ttes verborgen ist, können wir in der Tat voll und ganz zustimmen, dass alles zum Guten ist und war und sein wird.

Für uns einfache Menschen ist das oft schwer zu verstehen. Wir können G’ttes Liebe nicht erreichen. Wir werden depressiv, wenn wir das Elend um uns herum sehen. Manche Menschen verlieren sogar ihren Glauben, weil sie diese geistige Höhe nicht erreichen können und diesen Zustand nicht mehr ertragen.

Doch Reb Zuscha hat dies geschafft. Er war in der Lage, Schlechtes in Gutes zu verwandeln. Das klingt übernatürlich und vielleicht sogar unmenschlich. Dazu braucht es einen felsenfesten Glauben, eiserne Disziplin, einen sonnigen Blick von oben auf die Welt, außerordentliche Überzeugung von G’ttes Güte und eine echte, von Herzen kommende Frömmigkeit, um diese Kraft aufzubringen.

GÜTE Ein Mensch wie Reb Zuscha strahlt himmlische Güte aus und fühlt eine erhabene Glückseligkeit. G’ttes Nähe gibt ein Gefühl der Ekstase, auch »Ekstase des Leidens« genannt.

Und damit schließt sich der Kreis zu Rosch Haschana: An diesem »Tag des Gerichts« steht viel auf dem Spiel. Man gelangt entweder nach oben oder nach unten. Wie bei jedem Prozess sind wir im Hinblick auf das endgültige Urteil unsicher und beten inbrünstig für einen glücklichen Ausgang, für uns, unsere Familien, ganz Israel und die gesamte Menschheit.

Das vorherrschende Gefühl aber ist Unsicherheit. Unsere talmudischen Weisen haben dieses Gefühl auf viele verschiedene Arten ausgedrückt, in der Toralesung an Rosch Haschana, aber auch im Inhalt des Prophetentextes, der Haftara. Alles atmet Unsicherheit, und genau dieses Gefühl trifft auch den Nerv der aktuellen Zeit.

An Rosch Haschana lesen wir in der Tora von der Vertreibung von Hagar und Jischmael aus Awrahams Zelt. Es gibt keine Prophezeiung, die sich gerade jetzt, in unseren Tagen, so eindeutig erfüllt und uns so sehr verunsichert hat wie die Prozesse, die damals in Gang gesetzt wurden und nun im Heute geschehen. Wir haben in unserer Geschichte viele Unsicherheiten erlebt, aber heute treten wir, wie ich glaube, in die letzte Phase ein.

EXIL Talmudisch gesprochen, leben wir im Übergang von der vierten zur fünften Galut (Diaspora oder Exil) und der Rückkehr nach Israel. Nach der Sklaverei in Ägypten und dem Exodus gab es zunächst das babylonische Exil (vor 2500 Jahren), dann das Exil der Meder und Perser sowie die Zeit von Esther und Mordechai (vor 2400 Jahren). Darauf folgten die Herrschaft der Griechen (für 2200 Jahre) und die Diaspora während der Herrschaft des Römischen Reiches.

Wir befinden uns jetzt am Ende dieser vierten Galut und am Anfang der fünften Galut, der Galut von Jischmael, benannt nach dem Halbbruder unseres zweiten Patriarchen Jitzchak, verursacht durch Bewohner des Nahen Ostens. Im Sohar, der mystischen jüdischen Lehre, steht geschrieben, dass dies die letzte Galut sein wird. Wir wussten, dass sie kommen würde, aber ich bin immer wieder erstaunt über die Massivität und die Kraft, mit der sie sich jetzt manifestiert.

Es wird über Jischmael prophezeit, dass »seine Hand gegen alle und die Hand aller gegen ihn sein wird, und er wird gegenüber allen seinen Brüdern wohnen« (1. Buch Mose 16,12). In der Vergangenheit waren Christentum und Islam zwei getrennte Bereiche, aber heute hat sich dieser biblische Satz vor allem in unserer Generation durchgesetzt. Es hat sich eine starke Interaktion entwickelt, und nun leben Menschen aus dem Nahen Osten überall, in allen Ländern des Westens.

Das Glücksrad dreht sich, das Leben ist unvorhersehbar.

Ich kenne junge Leute, die sich bewusst von sozialen Medien fernhalten, weil sie sonst nur von den antizionistischen und antisemitischen Nachrichten bedrückt würden. Ein Klick, und das Gefühl der Bedrohung poppt auf: Diese Ungewissheit ist das Gefühl von Rosch Haschana. Und wer in die Quellen schaut, findet dieses Gefühl dort widergespiegelt.

CHANA Die Geschichte und das Gebet von Chana wird als Haftara am ersten Tag von Rosch Haschana in den Synagogen gelesen. Chana konnte ursprünglich keine Kinder bekommen. Ihre Gebete wurden schließlich an Rosch Haschana erhört. Am Ende bekam sie ein sehr außergewöhnliches Kind, das später der große Prophet Schmuel wurde.

Obwohl Chana keine Erzmutter war, sind ihre Prüfungen von zentraler Bedeutung für die Ereignisse an Rosch Haschana. Chana erwähnt den Namen G’ttes neun Mal in ihrem Gebet, was die Grundlage für den Inhalt der neun Segenssprüche (Berachot) und der drei zusätzlichen Abschnitte Malchujot (Verse über G’tt als König), Zichronot (Verse zur Erinnerung an das vergangene Jahr) und Schofarot (Verse zur Verbesserung unseres Verhaltens) des Rosch-Haschana-Mussafgebetes ist.

Niemand weiß, was der morgige Tag bringen wird. Alles kann sich ändern. Nichts ist sicher. Ein reicher Mensch kann sich seines Reichtums nicht sicher sein. Macht kann einem jederzeit genommen werden, Glück sich jederzeit in Unglück wenden. Das Glücksrad dreht sich in der Welt, trifft den einen Menschen und dann den anderen.

ÜBERRASCHUNGEN Das Leben ist voller Überraschungen, sagte Chana in ihren Gebeten: »Während die unfruchtbare Frau sieben Kinder gebar, war die, die viele Kinder hatte, verloren« (I Samuel 2,5). Haschem demütigt die Hochmütigen und erhebt die Demütigen und Unglücklichen. Nichts ist fest in dieser Welt. Das ist es, was Chana uns an Rosch Haschana sagen will. Das Leben ist unvorhersehbar. Glück ist zerbrechlich.

Rosch Haschana ist ein entscheidender Tag, an dem sich vieles ändern kann: Vor und nach der Zerbrechlichkeit liegt die Gewissheit. Denn Rosch Haschana ist immer noch ein Tag, an dem wir feiern. Wir nehmen große Mahlzeiten ein und kleiden uns festlich, denn wir sind uns eines guten Urteils des Allerhöchsten sicher. Am Ende werden wir alles überleben. Trotz allem. Schana tova!

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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