Talmudisches

Wunder im Bordell

Mit viel Geld löste Rabbi Meir seine Schwägerin aus. Foto: Getty Images/iStockphoto

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Wunder im Bordell

Wie Rabbi Meir seine Schwägerin rettete

von Yizhak Ahren  25.03.2022 08:22 Uhr

Der Tannait Rabbi Meir, Begründer des Lehrhauses in Tiberias, wusste das Leben im Land Israel sehr zu schätzen. Er sagte: »Wer in Eretz Israel wohnt, morgens und abends das Schma rezitiert und die heilige Sprache spricht, der ist ein Kind der zukünftigen Welt« (Midrasch Sifre zu 5. Buch Mose 32,43). Und doch zog Rabbi Meir, wie die Gemara (Avoda Zara 18b) berichtet, nach Babylonien. Wie kam es dazu?

Um diese Geschichte zu verstehen, muss man wissen, dass Rabbi Meir ein Schwiegersohn von Rabbi Chanina Ben Tradion war. Dieser war von den Römern zum Tode verurteilt worden, weil er sich verbotenerweise mit der Tora befasst hatte. Auch Rabbi Chaninas Ehefrau wurde hingerichtet, und eine ihrer Töchter zwang man in ein Bordell.

schwester Deren Schwester Berurja war mit Rabbi Meir verheiratet. Sie sagte zu ihrem Mann: »Es ist für mich beschämend, dass sich meine Schwester in einem Hurenhaus befindet.« Berurja schien sich zu wünschen, dass ihr Mann etwas unternehmen sollte, um seine Schwägerin aus ihrer misslichen Lage zu befreien.

Was tat Rabbi Meir? »Er nahm einen Behälter mit Goldmünzen und ging an den Ort, an dem sich die Schwägerin befand. Dabei sprach er zu sich: ›Hat sie sich nicht der Sünde hingegeben, so wird ihr ein Wunder geschehen; sollte sie sich aber der Sünde hingegeben haben, dann wird kein Wunder geschehen.‹«

Rabbi Meir wollte die Sache klären. »Er kleidete sich wie ein Reiter und forderte die Frau auf: ›Sei mir gefällig!‹ Diese erwiderte: ›Ich habe gerade meine Monatsblutung.‹ Er entgegnete: ›Ich kann warten.‹ Sie erwiderte: ›Sie hält lange an, und außerdem gibt es hier viele Frauen, die schöner sind als ich.‹«

Bestechung Aus diesem kurzen Dialog zog er den Schluss, dass seine Schwägerin sich nicht der Sünde hingegeben hatte. Hierauf ging Rabbi Meir zu ihrem Wächter und sprach zu ihm: »Gib sie mir!« Dieser erwiderte ihm: »Ich fürchte mich vor der Leitung.« Jener entgegnete: »Nimm diesen Korb mit Goldmünzen; eine Hälfte ist für Bestechung deiner Vorgesetzten, und die andere Hälfte behalte für dich.« Dieser fragte: »Was mache ich aber, wenn die Goldmünzen zu Ende sind?« Da erwiderte er: »Sprich ›Gott Meirs, hilf mir!‹, dann wirst du errettet werden.«

Der Wächter blieb misstrauisch: »Wer beweist mir, dass dem wirklich so ist?« Es befanden sich dort Hunde, die Menschen anfielen; da warf er eine Erdscholle nach ihnen, und die Tiere kamen heran, um ihn zu fressen. Als er aber sprach: »Gott Meirs, hilf mir!«, ließen die wilden Hunde von ihm ab. Daraufhin gab der Wächter ihm die Frau heraus.

Man mag sich fragen: Wieso durfte Rabbi Meir Goldmünzen für die Befreiung der Schwägerin geben? Denn eine Mischna lehrt: »Man löse keine Gefangenen über ihren Wert aus – das hat man wegen des allgemeinen Wohles angeordnet« (Gittin 45a). Sinn dieser Anordnung ist, dass man nicht zu viel Lösegeld zahlen soll, um Übeltäter nicht anzuspornen, weitere Opfer zu finden. Wie ist Rabbi Meirs Verhalten zu rechtfertigen? Für seine Auslösung darf ein Mensch so viel zahlen, wie er will. Berurja fühlte sich beschämt, ihr Mann identifizierte sich mit ihr, und deshalb durfte er sogar eine exorbitante Summe ausgeben.

GALGEN Der Talmud berichtet, was nach der Freilassung der Schwägerin geschah: »Die Sache kam heraus, und man führte den Wächter zum Galgen. Als er dann sprach: ›Gott Meirs, hilf mir!‹, nahmen die Henker ihn herunter und fragten ihn, was dies zu bedeuten habe. Da erzählte der Wächter ihnen die ganze Geschichte. Hierauf zeichneten sie das Gesicht Rabbi Meirs ans Tor der römischen Stadt und befahlen: Wer diesen Mann sieht, liefere ihn aus.«

Eines Tages erkannte jemand Rabbi Meir und verfolgte ihn. Er lief fort und flüchtete sich in ein Bordell. Manche erzählen, Elijahu sei gekommen, habe sich als Prostituierte ausgegeben und ihn wie einen Vertrauten umarmt. Da sagten die Verfolger: »Wäre dieser Mann Rabbi Meir, so würde er sich nicht so verhalten.« Kurz darauf flüchtete der steckbrieflich Gesuchte nach Babylonien.

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