Interview

»Wir müssen die Quellen kennen«

Amy-Jill Levine über das Neue Testament aus jüdischer Sicht, Bibelwissenschaften und den Kirchentag

von Ayala Goldmann  15.06.2023 14:35 Uhr Aktualisiert

Nimmt am Evangelischen Kirchentag in Nürnberg teil: die jüdische Bibelwissenschaftlerin Amy-Jill Levine aus den USA Foto: Daniel Dubois

Amy-Jill Levine über das Neue Testament aus jüdischer Sicht, Bibelwissenschaften und den Kirchentag

von Ayala Goldmann  15.06.2023 14:35 Uhr Aktualisiert

Frau Levine, Sie sind jüdische Bibelwissenschaftlerin. Einer Ihrer jüngsten Vorträge lautete: »Understanding Jesus Means Understanding Judaism«. Was meinen Sie damit? Schließlich verstehen wir Juden unsere Religion definitiv ohne Jesus …
Jesus zu verstehen, bedeutet für Juden, mehr über das Judentum zu begreifen, als wir bereits wissen. Die erste Person in der Literatur, die »Rabbi« genannt wurde, war Jesus. Der einzige Pharisäer, von dem wir schriftliche Aufzeichnungen haben, ist Paulus von Tarsus. Das Neue Testament ist also Teil der jüdischen Geschichte – wie die Schriftrollen vom Toten Meer. Als Historikerin kann ich das Neue Testament benutzen, damit es mir etwas über jüdische Praktiken und Glauben erzählt, das ich woanders vielleicht nicht finde. Für Christen wiederum gilt: Wenn sie Jesus falsch verstehen, dann werden sie auch Paulus falsch interpretieren und antijüdische oder antisemitische Aussagen treffen, weil sie ihre Geschichte nicht kennen.

Wie sollten Kirchen mit den problematischen Stellen im Neuen Testament umgehen, etwa wenn es im Matthäus-Evangelium heißt: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder?«
Viele Pastoren oder Priester haben überhaupt keine Ausbildung darin, wie sie mit diesen Stellen umgehen sollen. Übrigens haben wir Juden im Tanach, der Hebräischen Bibel, auch ein paar problematische Stellen. Wir müssen grundsätzlich alle aufpassen bei Texten, die zu Bigotterie oder Fanatismus führen können. Wer in einen christlichen Gottesdienst geht und dort solche Textstellen hört, hat verschiedene Wege, damit umzugehen. Manchmal werden einem in der Kirche kleine Zettel in die Hand gedrückt, um für Kranke zu beten. Man kann einfach darauf schreiben, dass dieser oder jener Text für antisemitische Zwecke missbraucht wurde und man ihn ablehnt. Ein Pastor kann eine Stelle wie die im Matthäus-Evangelium auch so betonen, dass klar wird, dass sie Schmerz bedeutet und er sich davon distanziert. Er kann das auch verbal zum Ausdruck bringen und erklären: Wir glauben nicht, dass alle Juden für den Tod von Jesus verantwortlich sind. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten. Klar ist aber: Es muss etwas getan werden.

Sie arbeiten zu diesen Themen mit christlichen Theologen. Wie ist die Resonanz?
Ich bekomme sehr viel positive und sehr wenig negative Resonanz. Das Buch »Das neue Testament – jüdisch erklärt«, das ich mit herausgegeben habe und das 2021 auf Deutsch erschienen ist, ist die Grundlage für meine Arbeit. In Deutschland haben protestantische Bischöfe, zum Beispiel in Bayern, dafür gesorgt, dass jeder Pastor in seinem Sprengel eine Kopie erhält.

Ist das Buch auch auf Hebräisch erschienen?
Nein, aber es kommt eine brandneue Übersetzung des Neuen Testaments ins Hebräische heraus, die von Akademikern erarbeitet wurde. Bisher gibt es einige hebräische Übersetzungen des griechischen Originaltextes, die von christlichen Missionaren stammen.

Christliche Missionare sind leider auch in Deutschland immer wieder ein Thema. Wie können sich Juden dagegen wappnen, von Leuten wie »Jews for Jesus« vereinnahmt zu werden?
Ich denke, die beste Art, wie man Missionare davon abhalten kann, Juden zu überzeugen, ist, gründlich darüber aufzuklären, warum die große Mehrheit der Juden schon im ersten Jahrhundert n.d.Z. nichts mit dem Christentum zu tun haben wollte.

Was ist Ihre Antwort?
Weil das messianische Zeitalter noch nicht gekommen war. Und die meisten Juden sind der festen Überzeugung, dass es keine kommende Welt und kein messianisches Zeitalter ohne den Messias geben kann. Es gab zu diesen Fragen übrigens auch schon im ersten Jahrhundert unterschiedliche Ansichten unter den Juden, aber in einem Punkt waren sich alle einig: Wenn der Messias kommt, werden die Toten auferstehen und die Juden aus der Diaspora nach Israel zurückkehren. Es wird ein Jüngstes Gericht geben und Frieden auf Erden. Aber nichts davon ist passiert. Deshalb kann Jesus logischerweise nicht der Messias sein.

Warum sollten wir uns dann mit ihm beschäftigen? Finden Sie einen christlichen Ansatz, Sinn im Leiden zu erkennen, ansprechend?
Überhaupt nicht. Ich finde, dass die Juden genug gelitten haben. Noch mehr Leid interessiert mich nicht. Mir geht es darum, dass das Christentum Teil der jüdischen Geschichte ist. Jahrhundertelang haben Christen Juden verfolgt. Um das zu verstehen, müssen wir die Quellen kennen. Was lesen die Christen? Und wann sollten wir sie darauf aufmerksam machen, dass sie ihre eigenen Quellen falsch oder einseitig interpretieren? Außerdem ist mir eines sehr wichtig: Ich möchte schließlich auch, dass Christen uns mit Respekt begegnen, dass sie sich im Zusammenhang mit Juden nicht nur über den Staat Israel Gedanken machen, sondern dass sie wissen: Das Judentum ist mehr als die Schoa oder eine Produktion von »Fiddler On The Roof«. Ich möchte, dass Christen sich mit jüdischer Ethik beschäftigen, dass sie verstehen, wie wir die Bibel lesen und wie sie uns zum Verständnis so vieler anderer Texte anregt. Wenn wir also Respekt für das Judentum einfordern, schulden wir den Christen den gleichen Respekt. Und wenn ich meine christlichen Nachbarn verstehen möchte, dann sollte ich das Buch lesen, das die Grundlage ihres Lebens darstellt.

Wie funktioniert der jüdisch-christliche Dialog heute in den USA? Stehen die Kirchen und Synagogen auch dort vor dem Problem, dass sie Mitglieder verlieren?
Ja, wir sehen eine sinkende Tendenz beim religiösen Bekenntnis. Das betrifft Juden, Christen und sogar Muslime in den Vereinigten Staaten. Der christlich-jüdische Dialog in den USA war in den 60er- und 70er-Jahren sehr stark. Er ist etwas schwächer geworden, aber vor allem der jüdisch-katholische Dialog besteht immer noch sehr ausgeprägt, weil die römisch-katholische Kirche ein großes Interesse an diesen Fragen hat. Katholische Priester haben den Vatikan, der ihnen sagt, was sie zu tun haben – bei den Protestanten oder Evangelikalen gibt es keine Hierarchie. Einzelne Pastoren können also bestimmen, was wichtig ist und was nicht. Beim Deutschen Evangelischen Kirchentag sind die Leute, die mich eingeladen haben, sehr, sehr interessiert am christlich-jüdischen Dialog und haben große Sorge, dass Pfarrer in ihren Predigten am Sonntagmorgen antijüdische Bemerkungen machen könnten. Und diese Besorgnis innerhalb der Kirche scheint mir so groß, dass sie auch dann noch vorhanden wäre, wenn es in Deutschland keine Juden gäbe.

Sie sind jüdische Feministin und bekommen oft Vorwürfe nichtjüdischer Feministinnen zu hören, das antike Judentum sei frauenfeindlich. Was erwidern Sie?
Wenn wir die Rolle von Frauen im antiken Judentum und im Tanach betrachten, dann treffen wir etwa auf die Töchter von Zelophchad, die auf ihr Recht als Erbinnen pochen, auf eine Prophetin wie Debora, die gleichzeitig Richterin war, oder auf die Prophetin Miriam. Frauen nahmen an religiösen Ritualen teil – wie Chana, die zum Heiligtum in Shilo ging und dort betete. Frauen hatten ein eigenes Einkommen. Sie konnten kaufen. Sie konnten verkaufen. Sie konnten Geschäfte leiten.

Egalitär war die Gesellschaft natürlich nicht …
Nein. Aber die Frauen waren nicht so unterdrückt und deprimiert, dass sie das System gehasst hätten. Aus der Archäologie wissen wir, dass Frauen für viele Rituale verantwortlich waren, die zu Hause stattfanden. Sie zündeten die Schabbatkerzen. Sie hatten den größten Anteil an der Vorbereitung von koscherem Essen oder Textilien. Darf man Wolle und Leinen vermischen? Frauen waren auch für solche Fragen verantwortlich. Wir können übrigens auch in dieser Hinsicht das Neue Testament als gute Quelle für das Leben von Frauen in der jüdischen Geschichte des ersten Jahrhunderts heranziehen. Dort gibt es Beispiele von Frauen, die über eigenes Einkommen verfügten, eigene Häuser besaßen, reisen durften und in Synagogen gingen, auch in den Tempel von Jerusalem. Sie konnten ihre Männer verlassen und sich sogar scheiden lassen. Es gibt dazu Beispiele im Neuen Testament, als die Rabbiner noch nicht dafür verantwortlich waren. Nein, die antike jüdische Gesellschaft war nicht egalitär, aber es gibt einige gute Nachrichten über Frauen in dieser Zeit. Abgesehen davon müssen wir ja heute nicht in Zeiten leben wie damals, als das Buch Leviticus (3. Buch Mose) geschrieben wurde, im ersten Jahrhundert nach der Zeitrechnung oder zur Zeit des Talmuds. Und sogar, wenn wir den Talmud lesen, sehen wir häufig, dass eine Minderheitenmeinung drei oder vier Generationen später zu einer Mehrheitsmeinung wird. Wenn wir unsere Texte kennen, sind wir grundsätzlich in einer besseren Position, um sie zu interpretieren.

Die Online-Bibliothek »Sefaria« hat gerade eine gendersensible Übersetzung der Hebräischen Bibel veröffentlicht. Was denken Sie darüber?
Sefaria ist »crowdsourced.« Es gibt dort auch Übersetzungen, die keine Gender-Aspekte berücksichtigen. Wir haben also die Wahl. Und das ist eine Idee, die mir gefällt. Das gilt übrigens auch für das Neue Testament, da gibt es genderinklusive und konventionelle Übersetzungen. In einer Übersetzung geht grundsätzlich immer etwas verloren, oder es wird etwas hinzugefügt. Manche gendersensiblen Übersetzungen ändern nicht die Bedeutung, aber sie heißen Menschen willkommen, die sonst ausgeschlossen wären. Man muss »Bnei Israel« nicht als »Söhne Israels« übersetzen. Man kann auch »Kinder Israel« sagen.

So heißt es auch in der Luther-Übersetzung.
Es ist aber genauso legitim, die Übersetzung »Söhne Israels« zu wählen.

Was halten Sie davon, wenn gefordert wird, die Sprache der Bibel im Original zu ändern?
Es kommt darauf an, herauszufinden, was das Original ursprünglich sagen wollte. Die meisten jüdischen Leser der Antike wären sich wohl darin einig gewesen, dass die Formulierung »Bnei Israel« auch die Frauen einschließt. In anderen Fällen müsste man klären, ob Frauen eingeschlossen waren, auch wenn man eher männliche Ausdrücke gewählt hat. Auf Englisch gibt es das Wort »Mankind« für »Menschheit«. Manche Frauen mögen das Wort nicht und verwenden lieber »Humanity«. Aber es ist immer eine Vermutung. Was die Bibel betrifft, finde ich es übrigens schade, dass wir auf Übersetzungen angewiesen sind. Es wäre großartig, wenn alle Juden Hebräisch und Aramäisch lesen könnten.

Mit der Professorin für Neues Testament und Jüdische Studien an der Hartford International University for Religion & Peace sprach Ayala Goldmann.

Amy-Jill Levine, Marc Zvi Brettler, Wolfgang Kraus, Michael Tilly und Axel Töllner (Hrsg.): »Das Neue Testament jüdisch erklärt«. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2021, 984 S., 68 €

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