In einem populären Chanukka-Lied heißt es: »Nerotei hase’irim – ma rabu hasipurim« – »Meine kleinen Lichter – wie viele Geschichten sie erzählen!«
Chanukka ist die Zeit des Erzählens. Die Geschichte vom Krüglein Öl kennen wir schon. Die Sache mit den Makkabäern und ihrer Tempelreinigung ist auch hinlänglich bekannt. Doch wussten Sie, dass die fünf wackeren Söhne Mattitjahus auch eine Schwester hatten?
Zeit des Erzählens
Diese Geschichte erschließt sich, wenn man einem Hinweis von Raschi (1040–1105) nachgeht. Im Talmud (Schabbat 23a) wird erklärt, dass auch Frauen zum Zünden der Chanukkalichter verpflichtet sind, »weil auch sie von diesem Wunder betroffen waren«. Aber Raschi geht darüber hinaus und sagt: »Wegen einer Frau geschah das Wunder«! In seinem Kommentar deutet er an, was damit gemeint ist. Zu den israelfeindlichen Dekreten der Griechen habe gehört, dass sie das »Jus primae Noctis« verhängten: Jede jüdische Braut hätte in der Hochzeitsnacht zuerst mit dem Gouverneur zu verkehren.
Raschis Anmerkung spiegelt mittelalterliche Midraschim wider, die von einer Frau berichten, die der Praxis der Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht ein Ende setzen wollte. Der Legende nach war es die Tochter von Mattitjahu HaKohen, also eine Schwester der fünf Makkabäerbrüder, die zur Heldin von Chanukka wurde.
Als sie bei ihrer Hochzeitsfeier erfuhr, was ihr bevorstand, und dass anscheinend niemand vorhatte, etwas dagegen zu unternehmen, beschloss sie, selbst aktiv zu werden. Als alle beim Festmahl saßen, stand sie auf, riss sich die Kleider vom Leib und stand nackt vor der ganzen Hochzeitsgesellschaft. Die Brüder waren beschämt und wütend und wollten sie wegen dieses Ehrverlusts töten. Sie aber rief ihnen zu: »Was, das beschmutzt eure Ehre? Aber nicht der Umstand, dass jede Braut erst vom Statthalter vergewaltigt wird?«
Aus Wider- entwickelt sich Aufstand
Sie rief ihre Brüder zum Widerstand auf. In jener Nacht schlichen diese statt ihrer zum Schlafzimmer des Statthalters, töteten ihn – und so begann der Aufstand gegen die Griechen, der letztlich siegreich war und zur Wiedereinweihung des Tempels führte.
Die fünf Söhne Mattitjahus hatten auch eine Schwester.
Im Midrasch »Ma’asseh Chanukka« wird diese Geschichte erzählt. Hier ist die Makkabäertochter namenlos, aber in manchen Überlieferungen wird sie Chana, in anderen Judith genannt.
Überhaupt sind Frauen in der Chanukka-Folklore prominent vertreten. Da ist die Erzählung von der Mutter, deren sieben Söhne den Tod vorziehen, anstatt auf Geheiß des griechischen Herrschers Götzendienst zu vollziehen. Sie ist im zweiten Makkabäer-Buch erwähnt, wird aber im Talmud (Gittin 57b) noch ausgeschmückt.
Auch die Geschichte von Judith, die ihr Volk vor dem Tyrannen Holofernes rettet, wird zu Chanukka gelesen. Und »Megillat Antiochus«, eine Verarbeitung der Makkabäerlegende aus dem 6. bis 8. Jahrhundert n.d.Z., ist auffällig nach dem Buch Esther modelliert. Wenn wir beim Zünden der Chanukkalichter genau hinhören, erzählen sie uns nicht nur die Geschichten von tapferen Kriegern, sondern auch die von mutigen Frauen.
Die Autorin amtiert in der Jüdischen Gemeinde Hameln und lehrt am Regina-Jonas-Seminar für Liberale Rabbinatsausbildung.