Studie

Was kommt danach?

Jüdisches Denken kreist hauptsächlich um Weisungen für die Lebensführung in der diesseitigen Welt. Aber es ist nicht zu übersehen, dass sowohl in der Liturgie als auch in zahlreichen religionsphilosophischen Schriften von einem Leben nach dem Tod die Rede ist. So erwähnen betende Juden mindestens dreimal täglich die Tatsache, dass Gott ein Beleber der Toten ist. Und sie erwähnen im Gottesdienst auch »Olam Haba« (das Leben in der zukünftigen Welt der Seelen).

Das Wesentliche hat schon der Historiker Flavius Josephus vor fast 2.000 Jahren festgestellt: Die Pharisäer glauben sowohl an die Auferstehung der Toten als auch an die Unsterblichkeit der Seele. Für diejenigen, die ein differenziertes Bild der Jenseitsvorstellungen im Judentum sehen wollen, hat Leila Leah Bronner eine vorzügliche Studie geschrieben.

Judaistik Bronner ist Tochter eines chassidischen Rabbiners, dem sie das vorliegende Buch gewidmet hat. Die Autorin hat viele Jahre als Hochschullehrerin in Johannesburg Judaistik gelehrt und lebt heute in Los Angeles. Sie hat mehrere Bücher über biblische Themen veröffentlicht, und nach ihr wurde schon jetzt, zu Lebzeiten, eine Schule benannt.

Das hier vorgestellte Werk ruht auf zwei Säulen, einerseits den Formen der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit und andererseits den akademischen Forschungsmethoden.

Die Darstellung Bronners folgt strikt der Chronologie. Dadurch kann die Autorin zeigen, wie Vorstellungen im Laufe der Zeit erweitert und modifiziert wurden. Im Kapitel über die Bibel führt Bronner viele Stellen an, die man als Andeutungen für ein Leben nach dem Tod betrachten kann. So heißt es in der Tora: »Ich töte und belebe, verwunde und heile, und niemand rettet aus meiner Hand« (5. Buch Moses 32,39). Der Prophet Daniel sagt: »Viele von denen, die schlafen im Erdenstaube, werden erwachen: diese zum ewigen Leben und jene zur Schande, zu ewigem Abscheu« (12,2).

Vorraum In der nachbiblischen Literatur wurden die Andeutungen ausgebaut und breit dargestellt. So wird in der Mischna die Frage erörtert, wer in die Olam Haba kommen wird und wer nicht. Auf das Verhalten der Menschen kommt es an. Die Rabbinen haben unsere Welt mit einem Vorraum zur zukünftigen Welt verglichen: »Mache dich im Vorzimmer bereit, damit du ins Tafelzimmer eingehen kannst« (Sprüche der Väter 4,21). Im Talmud wird die Frage erörtert, was in der zukünftigen Welt geschehen werde. Die Rabbiner listeten sogar die Fragen auf, die einem Verstorbenen beim Gericht gestellt werden. Bronner merkt an, einige dieser Fragen seien leichter zu verstehen als andere.

Klar ist, dass es nach dem Tod Lohn und Strafe für das Verhalten auf dieser Welt geben wird. Wie es in Gan Eden beziehungsweise im Gehinom (Hölle) zugeht, haben die Meister des Talmuds anschaulich beschrieben. Vor allem kam es ihnen darauf an, die Menschen rechtzeitig zu ermahnen, den rechten Weg einzuschlagen, damit sie sich einen Anteil an der Olam Haba sichern können.

Ihre Fragestellung hat Bronner konsequent verfolgt. Sie arbeitet deutlich heraus, was Vertreter der mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophie zum Thema des Lebens nach dem Tod gesagt haben. Moses Maimonides hat klargestellt, dass es in der zukünftigen Welt keinerlei stoffliche Materie gibt: Nur die Seelen der Frommen sind dort. Die Auferstehung der Toten war auch für ihn ein Glaubensartikel, aber er vertrat die Ansicht, dass nach der Auferstehung ein zweiter Tod erfolgen werde. Andere jüdische Denker haben Maimonides in diesem Punkt widersprochen. Bronner referiert ebenfalls ausführlich die Ansichten von Nachmanides und von Joseph Albo.

Dibbuk Besonders interessant sind die Ausführungen im Kapitel über die Ansichten der jüdischen Mystiker. Bronner erläutert die Seelenauffassung der Kabbalisten. Diese haben die Lehre von der Reinkarnation im Judentum heimisch gemacht. Die Lehre von der Seelenwanderung wurde zwar von Gelehrten wie zum Beispiel Saadia Gaon abgelehnt, hat sich aber bis zum heutigen Tag in manchen religiösen Kreisen halten können. Nur vor diesem Hintergrund sind die vielen populären Dibbuk-Geschichten zu begreifen. Nach Ansicht der Kabbalisten ermöglicht die Reinkarnation der Seele, Aufgaben zu erledigen, die sie in einem früheren Leben nicht vollbracht hat – sie ist also eine Form der Sühne.

Bronner geht auch auf Jenseitsvorstellungen in der modernen Zeit ein. Die Reformbewegung in Deutschland hat im 19. Jahrhundert die Unsterblichkeit der Seele betont und die Lehre von der Auferstehung zurückgewiesen. Die amerikanischen Rekonstruktionisten haben im 20. Jahrhundert die Auferstehung der Toten aus ihrem Gebetbuch gestrichen. Es ist be-
merkenswert, dass in der Gegenwart viele Juden sich erneut ernsthaft mit den überlieferten Ansichten über das Leben nach dem Tod auseinandersetzen.

Manche Leser wird es überraschen, dass Bronner auch ein Kapitel über den Messias in das vorliegende Buch aufnahm. Sie referiert verschiedene Ansichten darüber, ob die Ankunft des Messias mehr Wirkung in dieser Welt oder in der Olam Haba haben wird. Klar ist, dass der Messias nach jüdischer Auffassung ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, der unsere Welt neu ordnen wird. Auf sein Kommen zu harren, ist ein Gebot der Tora. Trotz sehr vieler Enttäuschungen haben Juden die Hoffnung nicht aufgegeben, dass unsere (in der bisherigen Geschichte keineswegs ideale) Welt eines Tages friedvoll und gottesfürchtig sein wird.

Leila Leah Bronner: »Journey to Heaven: Exploring Jewish Views of the Afterlife«. Urim Publications, Jerusalem 2011, 206 S., 19,99 €

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025

Chanukka

Das jüdische Licht

Die Tempelgeschichte verweist auf eine grundlegende Erkenntnis, ohne die unser Volk nicht überlebt hätte – ohne Wunder kein Judentum

von Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky  12.12.2025

Deutschland-Reise

Israels Oberrabbiner besucht Bremen

Kalman Meir Ber trifft Bürgermeister Andreas Bovenschulte und die Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft, Antje Grotheer (beide SPD)

 12.12.2025

Wajeschew

Ein weiter Weg

Das Leben Josefs verlief nicht geradlinig. Aber im Rückblick erkennt er den Plan des Ewigen

von Rabbinerin Yael Deusel  12.12.2025

Talmudisches

Nach der Sieben kommt die Acht

Was unsere Weisen über die Grenze zwischen Natur und Wunder lehren

von Vyacheslav Dobrovych  12.12.2025

Chanukka

Nach dem Wunder

Die Makkabäer befreiten zwar den Tempel, doch konnten sie ihre Herrschaft nicht dauerhaft bewahren. Aus ihren Fehlern können auch wir heute lernen

von Rabbiner Julian-Chaim Soussan  12.12.2025

Quellen

Es ist kompliziert

Chanukka wird im Talmud nur selten erwähnt. Warum klammerten die Weisen diese Geschichte aus?

von Rabbiner Avraham Radbil  11.12.2025