Jochanan Ben Sakkai

Von Jerusalem nach Jawne

Kerzen am Grab von Rabban Jochanan Ben Sakkai in Tiberias Foto: Flash 90

Rabban Jochanan Ben Sakkai, der als führender Kopf der Weisen des Talmuds – der Tannaiten – in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und als Begründer des Lehrhauses von Jawne galt, war »der jüngste von Hillels Schülern« (Talmud, Sukka 28a). Er studierte auch bei Schammai (Avot 2,8), wurde aber später Leiter der Schule von Hillel.

Schon während seiner Lehrjahre erkannte Hillel ihn als künftige Führungspersönlichkeit an und sagte: »Ich bin überzeugt, dass dieser der Lehrer Israels sein wird« (Pesachim 3b). Der Talmud fügt hinzu: »Und es dauerte nicht lange, bis er der Mentor des Volkes Israel wurde.« Außer den Nachkommen Hillels war Jochanan Ben Sakkai der einzige Gelehrte, der den Ehrentitel »Rabban« (»unser Lehrer«) erhielt.

SANHEDRIN Im von den Römern belagerten Jerusalem führte Rabban Jochanan ben Sakkai eine Gruppe von Gegnern der extremen Maßnahmen an. Er war stellvertretender Vorsitzender des Sanhedrin, und seine Unterschrift steht unter vielen Berufungen der Weisen neben der Unterschrift des Oberhauptes des obersten jüdischen Gerichts.

Rabban Jochanan glaubte, dass die Erhaltung der Zentren des Torastudiums noch wichtiger sei als die Verteidigung der politischen Unabhängigkeit. Der Talmud erzählt, dass er in Erwartung einer bevorstehenden Katastrophe einen riskanten Plan in die Tat umsetzte.

Geboren wurde Jochanan um 30 v.d.Z, sein genaues Todesdatum ist nicht bekannt und wird oft mit 90 n.d.Z. angegeben. Über seine Flucht aus dem belagerten Jerusalem schreibt der Talmud: Zu dieser Zeit angeblich bereits ein 100 Jahre alter Mann, ließ Rabban Jochanan ein Gerücht über seinen Tod verbreiten, wickelte sich in ein Leichentuch ein, und zwei Jünger trugen ihn »zur Beerdigung« aus der Stadt.

KAISER Sobald er wieder in Freiheit war, erschien er vor dem römischen General Vespasian und begrüßte ihn als Kaiser. Vespasian widersprach, er sei nur ein Kommandeur und kein Kaiser, aber in diesem Moment kam ein Bote aus Rom mit der Nachricht, die Armee habe ihn zum Kaiser erklärt.

Der beeindruckte Vespasian wollte den jüdischen Weisen, der seinen Aufstieg voraussagte, belohnen, und Rabban Jochanan bat ihn darum, eine Jeschiwa in der Stadt Jawne nahe der Mittelmeerküste gründen zu dürfen. Des Weiteren bat er auch darum, das Leben der Nachkommen von Hillel zu retten, damit König Davids Familie, die den Maschiach hervorbringen wird, nicht unterbrochen wird (Gittin 56ab).

Nachdem er die größten Weisen seiner Generation nach Jawne gebracht hatte, stellte Rabban Jochanan dort den Sanhedrin wieder her und leitete dessen Arbeit in den ersten Jahren nach der Zerstörung des Tempels (Seder Hadorot). Er lehrte, dass in dieser neuen Situation, da der Tempel nicht mehr existierte, der Opferdienst durch gute Taten ersetzt werden könne, weil »die gegenseitige Barmherzigkeit die Juden wie ein Tempelopfer entsühnen kann« (Avot deRabbi Nathan 4,5).

BEIT DIN Gleichzeitig initiierte er eine Reihe von Dekreten, um die Erinnerung an den Tempel aufrechtzuerhalten. So legte zum Beispiel sein Beit Din fest, dass an Sukkot der Segensspruch über die Arba Minim, die vier Pflanzenarten, sieben Tage lang gesprochen werden soll. Dieses tun wir auch heute noch. Vor der Zerstörung des Heiligtums in Jerusalem wurde diese Praxis ausschließlich im Tempel praktiziert, wobei außerhalb des Baus der Segensspruch nur am ersten Tag von Sukkot rezitiert wurde (Rosch Haschana 30a).

Besondere Aufmerksamkeit in der Jeschiwa von Jawne wurde auf die Sammlung und die Kodifizierung der noch erhaltenen mündlichen Lehre gelegt. Der Talmud erzählt im Traktat Sukka (28a), dass Rabban Jochanan selbst eine unerschöpfliche Quelle der Weisheit war – er kannte die gesamte Schrift und alle Methoden, sie zu studieren, alle Gesetze und ihre Erklärungen, alle Überlieferungen und alle »Zäune um das Gesetz«, die von den Weisen früherer Generationen errichtet worden waren.

Er verstand die Sprachen der Dienstengel, Dämonen, Pflanzen und Tiere.
Außerdem wusste er, wie man die Umlaufbahnen von Himmelskörpern berechnet, besaß Kenntnisse über die Gematria (Zahlenwerte der hebräischen Buchstaben) und verstand angeblich die Sprache der Dienstengel, der Dämonen, der Pflanzen und der Tiere. Schließlich, so heißt es, besaß er genaue Kenntnis von der wahren Struktur des Universums.

SOHAR Das kabbalistische Buch Sohar bestätigt, dass Rabban Jochanan einer der wenigen Weisen war, die die innerste Bedeutung der Gebote erkannten (1,1456). Es ist bemerkenswert, dass Rabban Jo­chanan ben Sakkai der Autor der berühmten Aussage im Traktat Avot ist: »Wenn du großes Wissen in der Tora erworben hast, betrachte es nicht als dein Verdienst, denn dafür wurdest du erschaffen« (2,8).

Der Talmud bezeugt, dass Rabban Jo­cha­nan viele außergewöhnliche moralische Ei­genschaften und eine herausragende Frömmigkeit besaß. Er »führte nie müßige Gespräche, ging nie vier Ellen, ohne über die Tora nachzudenken und ohne Tefillin, und niemand konnte vor ihm in das Haus der Lehre kommen, und niemand verließ das Haus der Lehre später als er« (Sukka 28a).

Im Traktat Brachot (13a) heißt es, dass Rabban Jochanan, das Oberhaupt der Generation, »immer als Erster jeden Menschen, den er auf der Straße traf, grüßte, einschließlich der Nichtjuden«. Rabban Jochanan ben Sakkai erzog eine ganze Generation herausragender Schüler, und trotzdem sagt der Talmud, dass »mit seinem Tod das Strahlen der Weisheit verblasste« (Sota 49a). Das Grab von Rabban Jochanan ben Sakkai liegt in Tiberias, sein Wirken inspiriert uns bis zum heutigen Tag.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024