Wir stehen am Ende von Sefer Bamidbar, dem vierten Buch der Tora. Mit der Doppelparascha Matot-Massʼej erhalten wir einen letzten Einblick in die lange Wüstenreise des jüdischen Volkes. Bamidbar schildert dabei nicht nur die physischen Wanderungen, sondern vor allem den geistigen Kampf, wirklich G’ttes Volk zu werden. Es geht darum, G’ttes Gebote zur eigenen Lebensweise zu machen. Jetzt stehen die Bnej Jisrael an der Schwelle zum Verheißenen Land. Und wieder erklingen Stimmen des Zweifels. Doch gerade in diesen entscheidenden Momenten ruft uns die Tora zu ihrem wichtigsten Fundament: dem Glauben an G’tt.
Im Zentrum stehen die Stämme Re’uven und Gad
Die Stämme Re’uven und Gad stehen im Zentrum der ersten Lektion. Sie besitzen große Viehherden und sehen im fruchtbaren Ostjordanland den idealen Ort für ihre Tiere. Doch anstatt abzuwarten, was G’tt ihnen im verheißenen Land zuteilen will, treten sie sofort an Mosche heran – mit dem Vorschlag, dieses transjordanische Gebiet als ihren Erbteil zu nehmen.
Mosche reagiert zunächst scharf – das erinnert ihn an das Misstrauen der Kundschafter, die 40 Jahre zuvor G’ttes Verheißung anzweifelten. Re’uven und Gad stellen ihre materiellen Güter über alles – sogar über ihre eigenen Kinder. Sie sagen: »Wir wollen Viehställe für unsere Herden bauen und Städte für unsere Kinder.« Mosche antwortet entschieden – und dreht die Reihenfolge um: »Baut zuerst Städte für eure Kinder, dann Ställe für euer Vieh.«
Was hier fehlt, ist das Vertrauen. Das Vertrauen, dass G’tt ein Erbteil für sie bereithält, das genau zu ihrer Situation passt. Das Vertrauen, dass G’ttes Plan besser ist als der eigene – auch wenn man ihn nicht sofort versteht. Im Vorschlag der beiden Stämme klingt durch: Wir wissen besser, was gut für uns ist. Es wirkt praktisch und logisch – doch gerade darin liegt die Gefahr: Logik ohne Glauben führt zur Distanz von G’tt.
Was für ein Kontrast dazu sind die Töchter Zlofchads, aus dem Stamm Menasche! Sie kommen zu Mosche mit einer juristischen Frage: Dürfen Töchter erben, wenn es keine Söhne gibt? Was sie so besonders macht, ist ihre Hingabe an G’ttes Gesetz. Sie fragen demütig, akzeptieren die Antwort bedingungslos und leben nach G’ttes Gebot – selbst wenn es bedeutet, innerhalb ihres Stammes heiraten zu müssen. Sie legen ihre persönlichen Interessen ganz in G’ttes Hand. Für sie ist G’ttes Wille per Definition das Beste.
Und genau diese Haltung des Vertrauens ist es, die die Tora am Ende von Bamidbar hervorheben will. Während sich alles um Land, Besitz und praktische Sorgen dreht, stellt die Tora den Glauben dieser Frauen in den Mittelpunkt. Ihre Geschichte schließt das Buch ab – eine klare Botschaft: Glaube ist das Fundament beim Eintritt ins Verheißene Land.
Mosche fürchtet, die physische Entfernung vom Heiligen Land könnte zur geistigen Entfernung werden
Doch warum fügt Mosche den halben Stamm Menasche zu Re’uven und Gad im Ostjordanland hinzu? Weil er Sorge trägt. Die physische Entfernung vom Heiligen Land könnte zur geistigen Entfernung werden. Re’uven und Gad könnten ihre Bindung an das restliche Volk und an das spirituelle Zentrum verlieren.
Mosche entscheidet sich deshalb für einen Stamm, der dieses Gleichgewicht bewahren kann: Menasche, der Sohn von Josef, der in der ägyptischen Diaspora lebte, aber seinen Glauben und seine Heiligkeit bewahrte. Josef war ein Meister im Spagat zwischen weltlicher Macht und spiritueller Reinheit. Menasche folgte seinem Vorbild. Mosche wusste: Wenn jemand Re’uven und Gad im Glauben stärken kann, dann Menasche. Deshalb ging nur die Hälfte des Stammes mit – die andere Hälfte blieb verbunden mit dem Kernland, sodass der geistige Kontakt erhalten blieb.
Und wieder zeigt sich dieser Glaube – bei den Töchtern Zlofchads, aus demselben Stamm. Ihre Liebe zu Israel, ihr Vertrauen in G’ttes Plan, ihre Hingabe an Seinen Willen – sie sind der lebende Beweis dafür, dass es möglich ist, auch fern vom geistigen Zentrum G’tt nahe zu bleiben, wenn der Glaube stark ist.
Was lehrt uns dieser Abschluss von Sefer Bamidbar heute? Dass G’tt uns alles gibt, was wir brauchen – nicht immer das, was wir wollen, aber genau das, was unsere Seele, unsere Mission, unsere Zukunft braucht. Wenn wir G’ttes Plan nach unserem Denken zurechtbiegen wollen, fehlt uns das Vertrauen. Und wie bei den Kundschaftern oder bei Re’uven und Gad: Unglaube hat Folgen.
Wenn wir aber mit den Töchtern Zlofchads sagen: »Was Du gebietest, das ist uns gut«, dann leben wir wirklich als Kinder Israels. Dann erkennen wir: G’tt kennt uns besser als wir uns selbst. Er wählt unser Land, unser Erbe, unseren Weg – nicht um uns einzuschränken, sondern um uns zur Bestimmung zu führen.
Wie stehen wir zu G’ttes Führung? Frag dich selbst: Vertraue ich wirklich auf G’tt? Oder versuche ich, Ihn zu lenken, meine eigene Route zu planen, als wüsste ich es besser? Wage ich zu sagen: »Dein Wille geschehe, auch wenn ich ihn nicht verstehe«?
Wahre Sicherheit kommt nicht aus Besitz oder Planung
Wir leben in einer Zeit, in der praktische Sorgen überwiegen. Wir sorgen uns um Finanzen, Besitz, Zukunftspläne. Doch mitten in diesen Sorgen müssen wir unser Herz auf Emuna, den Glauben, richten. Nicht blind, aber tief. Nicht naiv, sondern voller Vertrauen. Denn wahre Sicherheit kommt nicht aus Besitz oder Planung – sondern aus dem Wissen: G’tt ist mit uns.
Israel wurde uns nicht als touristische Attraktion gegeben, sondern als heilige Aufgabe. Jeder Meter Land, jeder Schritt, jede Herausforderung und jeder Erfolg sind Teil eines größeren Plans. Die Lehren aus Bamidbar rufen uns zu: Vertraue auf G’tt – und lass Seinen Willen zu deinem werden.
Möge der Glaube der Töchter Zlofchads unser Vorbild sein. Möge der Fehler von Re’uven und Gad uns zur Warnung dienen. Und möge das Gleichgewicht und die Verbundenheit von Menasche uns stärken. Denn am Ende ist der Glaube an G’tt der einzige Weg zu unserer wahren Bestimmung.
Der Autor war Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und lebt heute in Israel.
inhalt
Der Wochenabschnitt Matot erzählt von Mosches letztem militärischen Unternehmen, dem Feldzug gegen die Midjaniter. Danach teilen die Israeliten die Beute auf und besiedeln das Land.
4. Buch Mose 30,2 – 32,42
»Reisen« ist die deutsche Übersetzung des Wochenabschnitts Mass’ej. Und so beginnt er auch mit einer Liste aller Stationen der Reise durch die Wildnis von Ägypten bis zum Jordan. Mosche sagt den Israeliten, sie müssten die Bewohner des Landes vertreiben und ihre Götzenbilder zerstören.
4. Buch Mose 33,1 – 36,13