Uschpisin

Virtuelle Gäste

Sukkah hut Foto: Getty Images

Uschpisin

Virtuelle Gäste

In Zeiten der Pandemie bekommt der alte Brauch, die Vorväter in die Sukka einzuladen, eine neue Bedeutung

von Chajm Guski  01.10.2020 11:02 Uhr

Wenn man in Corona-Zeiten schon kaum Freunde und Familie einladen kann, dann wenigstens die Vorväter. Das ist ein Brauch, den die jüdische Tradition seit den Kabbalisten von Safed kennt.

Auch wenn man es »eigentlich« jedes Jahr macht oder machen könnte, haben wir mit dieser speziellen Tradition jetzt die Möglichkeit, wenigstens an einen Aspekt der jüdischen Feste zu erinnern, der während der Corona-Zeit weit zurückstehen muss: Gastfreundschaft. An Sukkot sind die »Uschpisin«, die Vorväter, »virtuelle« Gäste: Awraham, Jizchak, Jakow, Josef, Mosche, Aharon und David.

GÄSTELISTE Das Wort »Uschpisin« kommt aus dem Aramäischen und bedeutet »Gäste«. Alle Genannten werden an jedem der sieben Abende von Sukkot in die Sukka eingeladen. An jedem Abend führt jedoch ein anderer Gast die »Gruppe« an und lädt dazu ein, sich mit ihm zu beschäftigen. Übrigens haben einige Gemeinden damit angefangen, auch Mütter in die Sukka einzuladen, aber hier gibt es keine einheitliche »Gästeliste«.

Rabbiner Jonathan Sacks, der frühere Oberrabbiner Großbritanniens, schreibt in seinem Kommentar zu den Gebeten, dass jeder der sieben Gäste mindestens einmal in seinem Leben die Erfahrung machen musste, von seinem angestammten Ort wegzumüssen und eine zeitweilige Unterkunft zu finden. Die Beschäftigung mit ihnen sei ein Weg, sich mit dem Fortbestehen des »jüdischen Weges« zu beschäftigen.

Und es stimmt: Awraham verließ den Haushalt seines Vaters, um in das Land zu ziehen, das G’tt ihm zu zeigen versprach. Jizchak ging während einer Hungersnot weg. Jakow floh vor seinem Bruder Esaw. Josef wurde in die Sklaverei verkauft. Mosche floh, nachdem er einen Ägypter getötet hatte, nach Midian. Anschließend wanderten er und Aharon 40 Jahre lang durch die Wüste. Und David floh vor Schaul.

KABBALA Bevor wir darauf schauen, was uns das heute bedeuten kann, werfen wir einen Blick auf die Herkunft dieses Brauches. Er liegt in der Kabbala. Das erklärt vielleicht, warum im sogenannten Rödelheimer Siddur des Wolf Heidenheim die Uschpisin fehlten. Heidenheim, der Herausgeber, bemühte sich, Texte mit Bezug zur mystischen Strömung wegzulassen.

Im Sohar, dem Hauptwerk der Kabbala, lesen wir: »Rabbi Abba sprach: Es heißt doch ›Du sollst sieben Tage in der Sukka sitzen‹, und dann ›Sie sollen sitzen‹. (…) Das Erste bezieht sich auf die Uschpisin und das Zweite auf die Menschen dieser Welt. Wenn Rabbi Hemnuna der Ältere die Sukka betrat, erfreute er sich, stand am Eingang und sprach: ›Lasst uns die Uschpisin einladen‹« (Emor 103b-104a).

Hier entsprechen die sieben Gäste den sieben Sefirot, den Aspekten von G’ttes Wesen, von denen es insgesamt zehn gibt. Später schreibt Rabbiner Issachar ben Pethahia ben Mosche Baer (der zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Kremnitz bei Bratislava lebte) in einem mystischen Werk namens Jesch Sachar (Prag 1609): »Beim Betreten der Sukka musst du die g’ttlichen Heiligen zu dir einladen, denn sie sind deine Herrlichkeit. Sie kommen in geistiger Form, um sich dir von allen Seiten anzuschließen« (39b).

REIHENFOLGE Das erklärt, warum es in verschiedenen Traditionen eine unterschiedliche Reihenfolge der Gäste gibt. Einige folgen der Reihenfolge der Sefirot. Jeder Sefira ist dabei ein Vorvater zugeordnet: Awraham steht für Chessed (Gnade), Jizchak für Gewura (Macht), Jakow für Tiferet (Pracht), Mosche für Netzach (Ruhm), Aharon für Hod (Majestät), Josef für Jesod (Grund) und David für Malchut (Königsmacht).

Die Sefirot sind, wenn wir die Leben der Vorväter betrachten, nicht zufällig zugeordnet. Es ist offensichtlich, warum David für Königtum (Malchut) steht.

Gerade in einer Zeit, in der das Gefühl der Unsicherheit eher zu- als abnimmt und Kontakte eingeschränkt sind, kann es sinnvoll sein, sich stärker mit der Tradition zu verbinden und den wichtigsten Aspekt der Gäste nicht zu vergessen, nämlich die Bereitschaft, seine Festfreude auch materiell zu teilen.

MAIMONIDES So hält Maimonides, der Rambam (1135–1204), in seinen Hilchot Schewitat Jom Tov (6,18) fest, man solle sich an den Feiertagen so verhalten, wie es im 5. Buch Mose geboten wird: »Und du sollst dich an deinem Fest erfreuen – du, dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht und deine Magd, der Levit, der Fremde und die Waise und die Witwe, die in deinen Toren sind« (16,14).

Im Talmud (Schabbat 127a) heißt es, dass es ein größeres Verdienst ist, Gäste zu empfangen, als die Schechina, die Gegenwart G’ttes. Mit anderen Worten: Wir machen das nicht nur für uns. Wir tun das auch für andere.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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