Gottesdienste

Virtuell oder analog?

Wie Rabbinerinnen und Rabbiner die Betergemeinschaft in Zeiten von Corona zusammenhalten

von Katrin Richter  24.01.2022 09:31 Uhr

Zusammen, getrennt und doch verbunden – auch für Rabbinerinnen und Rabbiner ist die Pandemie eine große Herausforderung. Foto: Rafael Herlich

Wie Rabbinerinnen und Rabbiner die Betergemeinschaft in Zeiten von Corona zusammenhalten

von Katrin Richter  24.01.2022 09:31 Uhr

Rabbiner Elischa Portnoy, Dessau-Roßlau
Nach dem Schock wegen der im Lockdown geschlossenen Synagogen kam schnell die Hoffnung: Vielleicht geht doch etwas. Dank Zoom gab es die Möglichkeit, sich virtuell zu versammeln und die Gebete gemeinsam online abzuhalten. Und so begannen wir mit Kabbalat Schabbat und Hawdala jede Woche, die von unserem Kantor durchgeführt wurden.

Jedoch wurde bald auch klar, dass es kein adäquater Ersatz für Minjan in der Synagoge ist. Da unsere Synagogen orthodox geführt sind, gab es aus halachischer Sicht die Möglichkeit, nur vor und nach Schabbat online zu gehen. Aber auch das Hören vom Kabbalat Schabbat vom Sofa aus erzeugt keine großen religiösen Gefühle und ähnelt mehr einem Konzert als einem Gebet. Dazu kamen noch technische Probleme bei den älteren Betern. Deshalb haben wir nach zwei Monaten die Online-G’ttesdienste beendet.

Die Beter, die online nicht zu gewinnen waren, haben wir einfach telefonisch kontaktiert.

Was sich aber als erfolgreich erwiesen hat, war der Online-Unterricht, der sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern gut ankam. Unterricht per Skype über die jüdische Geschichte von meiner Rebbetzin Katia Novominski gibt es in diesem Format noch bis heute (obwohl auch das Lernen live in der Synagoge möglich wäre).

Und der Bar-/Batmizwa-Klub, der gerade im Lockdown entstanden war, war so erfolgreich, dass er als gute Grundlage für Religionsunterricht diente, der ab September in Halle als Pilot-Projekt für Sachsen-Anhalt anfing. Die Beter, die online nicht zu gewinnen waren, haben wir einfach telefonisch kontaktiert und sind so mit ihnen in Kontakt geblieben. Nun ist auch wieder ein Online-Wintercamp geplant, so verlieren wir uns auch in der nächsten Pandemiewelle nicht.

Rabbiner Henry Soussan, Bayern
Mit Auftreten des Coronavirus und den damit verbundenen Lockdowns sind meine christlichen Kollegen schnell zu Online-Diensten übergegangen. Als stellvertretender Garnisonskaplan für die US Army in Bayern fiel es dabei in meinen Aufgabenbereich, dafür zu sorgen, dass alle Militärkapellen umgehend mit der notwendigen Technik ausgestattet wurden. Für orthodoxe Rabbiner ist ein virtueller Schabbat-Gottesdienst natürlich keine Option, da »Streaming« am Schabbat selbst nicht infrage kommt.

Um dennoch einen Online-Gottesdienst anbieten zu können, biete ich jeden Freitagnachmittag – vor Anbruch des Schabbats – ein Gebet an, das zentrale liturgische Elemente beinhaltet und sich gleichzeitig an die Einschränkungen des jüdischen Religionsrechts hält.

Ein Quorum von zehn erwachsenen Männern (Minjan) ist in militärischer Umgebung eher die Ausnahme als die Regel und kommt, wenn überhaupt, meist lediglich an den Hohen Feiertagen zustande. Auch führt die relativ geringe Zahl jüdischer Militärrabbiner dazu, dass viele jüdische Soldaten an einem Stützpunkt ohne jüdischen Kaplan dienen und daher keine Möglichkeit haben, überhaupt einen Schabbatgottesdienst zu besuchen. Mein Online-Gottesdienst besteht nun aus »Kabbalat Schabbat« und anderen Teilen der Liturgie, die ohne Quorum rezitiert werden können – wie das Schema Israel, das Gebet für die Kranken, sowie die Gebete für die Regierung und Streitkräfte der USA und Israels. Der Gottesdienst findet in einer US-Army-Kapelle statt. Ein gedeckter Schabbat-Tisch, mit Schabbat-Kerzen, Challa-Brot, Wein und Blumen ist auch zu sehen.

Jede Krise hat das Potenzial für Wachstum.

Der Gottesdienst wird von vielen Hunderten Menschen auf der ganzen Welt mitverfolgt; in Europa, den USA, Südkorea und dem Nahen Osten. Die hohen Teilnehmerzahlen und das Feedback, das ich erhalte, machen deutlich, dass »Virtual Ministry« für Juden im Militär einen Wendepunkt darstellt. Technologie kann niemals eine gemeinschaftliche Gebetserfahrung ersetzen und tatsächlicher menschlicher Kontakt ist für geistliches Wachstum unerlässlich. Im Rahmen der US Army ist es meist nicht eine Entscheidung zwischen virtuellen oder persönlichen Gottesdiensten, sondern zwischen virtuellem Gottesdienst oder keinem Gottesdienst.

Jede Krise hat das Potenzial für Wachstum. In diesem Fall war es die Erkenntnis, dass virtuelle Gottesdienste und Religionsunterricht zwar nicht der bevorzugte Modus Operandi sind, aber vielen jüdischen Soldaten eine Möglichkeit bieten, sich im Rahmen ihres Militärdienstes mit ihrem Glauben und ihrer Gemeinschaft zu verbinden.

Rabbiner Avraham Radbil, Konstanz
Wie auch alle anderen Gemeinden wurde die Synagogengemeinde Konstanz von der Corona-Pandemie überrascht und als eine relativ kleine Gemeinde stark getroffen. Wir (meine Familie und ich) sind im Januar 2020 nach Konstanz gezogen, im Februar fing es mit Corona hierzulande an. Kurz darauf ist die Gemeinde in die neuen Räumlichkeiten mit unserer wunderschönen Synagoge gezogen, die wir leider, des Lockdowns wegen, nicht lange genießen konnten.

Da viele der Gemeindemitglieder schon betagt sind, wollten wir diese schützen.

Nach der Wiederaufnahme der G’ttesdienste waren wir mehrmals dazu gezwungen, die Synagoge wieder für einige Wochen zu schließen, da die Inzidenzen sehr hoch waren und wir einige Corona-Fälle in der Gemeinde hatten. Da viele der Gemeindemitglieder schon betagt sind, wollten wir diese schützen. In dieser Zeit haben wir eine WhatsApp-Gruppe von der Gemeinde eröffnet, wo sich die Mitglieder austauschen können und über die stattfindenden oder nicht stattfindenden Ereignisse und Veranstaltungen in der Gemeinde informiert werden. Es ist wichtig, auch bei einem fast nicht stattfindenden Gemeindeleben, dass die Mitglieder miteinander in Kontakt bleiben.

Online-G’ttesdienste gibt es bei uns keine, jedoch wird jede Woche eine Drascha zum aktuellen Wochenabschnitt in der Synagoge aufgenommen und an die Gemeindemitglieder verschickt, damit die Mitglieder ihre Verbindung zur Synagoge und Tora nicht verlieren. Mehrmals wurden an Gemeindemitglieder, insbesondere zu den Feiertagen, Geschenkpakete verteilt. Auch im Moment finden bei uns keine G’ttesdienste statt, wir hoffen jedoch, bald wieder die Tür unserer Synagoge für alle öffnen zu dürfen.

Rabbiner Alexander Nachama, Erfurt
Bis auf eine Ausnahme letztes Jahr zu Purim, als ein Gottesdienst aus der Synagoge gestreamt worden ist, habe ich keine Erfahrungen mit Online-Gottesdiensten gemacht. Zwar musste die Synagoge im März und April 2020 einige Wochen schließen, seitdem fanden jedoch an jedem Schabbat und Feiertag Präsenzgottesdienste statt: mit einem zwar sehr strengen, aber effektiven Gesundheits- und Hygienekonzept, das sich in der Erfurter Synagoge, die genug Raum bietet, gut umsetzen lässt.

Kurze Gespräche vor und nach dem Gottesdienst sind ebenfalls wichtig.

Obwohl die Corona-Zahlen in Thüringen hoch sind, haben wir – Gott sei Dank – keinen Corona-Ausbruch in der Synagoge gehabt. Momentan gilt hier die 3G-Regel für Gottesdienste. Kidduschim fanden in den Sommermonaten, als ständig gelüftet werden konnte und die Inzidenzen niedrig waren, statt. Nun hoffen wir, dass es zumindest ab Pessach wieder möglich sein wird. Ein wichtiger Vorteil von Präsenzgottesdiensten liegt darin, dass so ein Gebet mit Minjan, Kaddisch und Toravorlesung stattfinden kann.

Kurze Gespräche vor und nach dem Gottesdienst sind ebenfalls wichtig. Jedoch sollte das jede Synagoge selbst entscheiden: abhängig von der Größe der Synagoge, der Anzahl der Beterinnen und Beter, ob diese sich an das Hygienekonzept halten, und noch vielen weiteren Faktoren. Es gibt keinen einheitlichen Weg, der sich überall anwenden lässt.


Rabbinerin Gesa Ederberg, Berlin
Als Rabbinerin bin ich seit Corona in einer völlig verrückten Situation – anstatt daran zu arbeiten, dass möglichst viele Menschen in die Gottesdienste kommen und an den Aktivitäten der Gemeinde teilnehmen, bin ich jetzt dafür zuständig, dass die Leute vorweg ihr Impfzertifikat schicken, dass sie mit großem Abstand sitzen, und dass nicht zu viele Leute zum Gottesdienst kommen. Das macht tatsächlich schlechte Laune und frisst sehr viel meiner Energie.

Die Arbeit wird mühsamer, aus Gesprächen, die nebenbei geschehen, werden E-Mails, Telefonate oder Zoom-Gespräche.

Kidduschim finden nicht statt, und das ist nicht nur wegen des leckeren Essens schade, sondern viel mehr noch, weil es keine Gelegenheit gibt, kurz zu fragen »Wie geht es dir?«, »Ist deine Mutter wieder gesund?«, »Sollen wir mal über die Barmizwa reden?«. Die Arbeit wird mühsamer, aus Gesprächen, die nebenbei geschehen, werden E-Mails, Telefonate oder Zoom-Gespräche.

Da wir als Synagoge Schabbat halten, machen wir Zoom-Gottesdienste nur vor oder nach Schabbat, zurzeit haben wir zum Beispiel ein zusätzliches Schacharit am Dienstag. An den Veranstaltungen auf Zoom nehmen zwar nicht so viele Leute teil, aber für die, die da sind, fühlt es sich tatsächlich nach einer »echten« Begegnung an. Und was mich am meisten freut: Viele, die es (aus guten Gründen) nicht zum Zoom schaffen und nicht zum Gottesdienst vor Ort kommen, sind doch froh, im Newsletter davon zu lesen: »Es ist gut zu spüren, dass es die Synagogengemeinschaft noch gibt.«

Wir bemühen uns, im Newsletter mehr zu schreiben, zu manchen Feiertagen haben wir auch reale Post geschickt. Vieles ist aber tatsächlich vertagt auf »nach Corona«, und ich fürchte, dass viele Beziehungen dann wieder neu aufgebaut werden müssen.

Zusammengestellt von Katrin Richter

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