Tübingen

»Verquere Wahrnehmungen aufbrechen«

Fahimah Ulfat ist Professorin für Islamische Religionspädagogik, Asher Mattern ist Rabbiner und Dozent für Jüdische Theologie. Gemeinsam leiten sie die Jüdisch-Islamische Forschungsstelle. Foto: Florian Schuberth

Frau Ulfat, Herr Mattern, Sie haben im Sommer 2023 die erste jüdisch-muslimische Forschungsstelle Deutschlands gegründet. Wenige Monate später haben viele interreligiöse Projekte einen Bruch erfahren. Wie erleben Sie diese Zeit?
Asher Mattern: Das entsetzliche Attentat am 7. Oktober 2023 hat unsere Situation natürlich entscheidend verändert. Wir hatten ein akademisches Projekt entworfen, das auf Forschung zielte, und wurden plötzlich fast nur noch im gesellschaftlichen Kontext wahrgenommen: als Jude und Muslimin, auf die die Hoffnung auf Verständigung projiziert wurde. In unserer persönlichen Ausrichtung hat sich letztlich aber nichts verändert, sondern höchstens verstärkt. Das Erforschen und Bewusstmachen der engen Verbindungen zwischen Judentum und Islam kann und soll ein wichtiges Element auf dem Wege einer Verständigung zwischen beiden Gruppen sein.

Wie kann nach einem solchen Tag wieder ein Dialog entstehen?
Mattern:
Unmittelbar nach dem 7. Oktober habe ich eine Reihe von Mails von muslimischen Kolleginnen und Bekannten bekommen, die ihr Mitgefühl und ihr Entsetzen zum Ausdruck gebracht haben. Ganz im Gegensatz übrigens zu Bekannten aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die lange geschwiegen haben. Ich habe auch mit jungen muslimischen Studierenden gesprochen, die ich als sehr reflektiert empfinde. Sie stehen der israelischen Politik kritisch gegenüber. Aber für sie steht außer Zweifel, dass das, was die Hamas getan hat, hart zu verurteilen ist.

Fahimah Ulfat: Kurz nach dem 7. Oktober begann für meine Studierenden der Islamischen Theologie das neue Semester. Ich habe ihnen angeboten, sich auszutauschen, ihre teilweise verzerrten Ansichten gegenüber Juden kritisch zu reflektieren, zu erweitern und zu überdenken. Das stellte für sie die erste Gelegenheit dar, sich in einem geschützten Rahmen mit dem Thema auseinanderzusetzen. Sie baten mich dann um ein Gespräch mit unserem jüdischen Professor, das sich tatsächlich als besonders hilfreich erwies. Die Studierenden entdeckten im Austausch mit Herrn Mattern unerwartete Parallelen zwischen Islam und Judentum, die ihnen bis dahin unbekannt waren. Auch die Hintergründe des Konflikts wurden ihnen klarer, und sie erkannten, dass viele Juden und Muslime ähnliche Sorgen teilen.

Ist das außerhalb dieser akademischen muslimischen Blase anders?
Ulfat:
Leider existiert unter vielen Muslimen der Irrglaube, dass Islam und Judentum seit jeher verfeindete Religionen seien. Einige populäre Propagandisten ziehen Verse aus dem Koran sowie historische Ereignisse heran, um die These zu stützen, dass Juden für die Probleme in der sogenannten muslimischen Welt verantwortlich seien. Wer solche Ansichten vertritt, neigt dazu, den Nahostkonflikt stark religiös aufzuladen, obwohl er meiner Ansicht nach in erster Linie ein politischer Konflikt ist. Ich sehe es als eine wichtige Aufgabe unserer Forschungsstelle an, solche Annahmen zu widerlegen und ein fundiertes Wissen über die jüdisch-muslimische Geschichte in die Gesellschaft zu tragen.

»Leider existiert unter vielen Muslimen der Irrglaube, dass Islam und Judentum seit jeher verfeindete Religionen seien.«

Fahimah ulfat

Aber es gibt doch im Koran zahlreiche Stellen, in denen Juden allerhand böse Eigenschaften unterstellt werden.
Ulfat:
Der Koran zeichnet ein komplexes und vielschichtiges Bild des Verhältnisses zu Juden, das im historischen Kontext der Offenbarungszeit verstanden werden muss. Im 7. Jahrhundert, als der Prophet Muhammad auf der Arabischen Halbinsel lebte und wirkte, haben bereits jüdische Stämme dort gelebt. Muhammad übernahm viele Rituale von den Juden, wie das Gebet und das Fasten, und war bestrebt, sie in seine Bewegung einzubinden. Der koranische Befund deutet darauf hin, dass es Muhammad nicht darum ging, eine neue »Religion« im heutigen Sinne zu gründen, sondern eher ein »Judentum 2.0« zu etablieren. Im Koran wird Islam nicht als Religion verstanden, sondern als eine Haltung der Hingabe gegenüber Gott. Die koranischen Verse adressieren also spezifische Diskurse und Auseinandersetzungen zwischen Muhammad und den Juden seiner Zeit. Während einige Verse hervorheben, dass Juden und Christen, die an Gott und an den Jüngsten Tag glauben und rechtschaffen handeln, ihren Lohn bei Gott haben, kritisieren andere Verse bestimmte jüdische Gruppen jener Zeit für spezifische Verhaltensweisen oder Einstellungen. Diese Kritik ist nicht als pauschale Verurteilung aller Juden zu verstehen.

Mattern: Auch in der Tora gibt es natürlich Passagen, die von manchen als Aufruf zur Gewalt gelesen werden. Entscheidend ist aber, wie uns diese Stellen von unseren Gelehrten der mündlichen Tora umgewendet wurden. Das bekannteste Beispiel ist sicher, dass die Anordnung, Amalek zu töten, zu einer rein theoretischen und vielfältig zu interpretierenden Lehre wird, wenn die Rabbiner ausdrücklich erklären, Amalek gebe es nicht mehr oder er wäre nicht mehr zu identifizieren. Besonders interessant ist, dass die Tora und der Midrasch bereits den Konflikt zwischen dem von Jizchak abstammenden jüdischen Volk und den von seinem Bruder Jischmael herkommenden arabischen Völkern in einer Weise versteht, wie er sich historisch entwickelt hat. Denn während der Konflikt zwischen Jakob und Esaw in der Tora ein Konflikt um den geistigen Segen ist, also ein theologischer Konflikt, handelt es sich bei dem Streit zwischen Jizchak und Jischmael darum, wer das Abraham versprochene Land erbt.

»Die Nähe zwischen den Religionen war so groß, dass einige islamische Erzählungen im Mittelalter unbemerkt wieder Eingang in die jüdische Tradition finden konnten.«

asher mattern

Würden Sie also sagen, dass es zwischen dem Judentum und dem Islam keinen theologischen Konflikt gibt?
Mattern:
Natürlich gibt es wichtige theologische Unterschiede, zugleich wurde die Nähe zwischen beiden Religionen aber als so groß empfunden, dass es etwa halachisch erlaubt ist, in einer Moschee zu beten, während eine Kirche gar nicht betreten werden darf – für unsere Tradition ist eindeutig, dass der Islam eine monotheistische Religion ist und zu demselben Gott betet. Und anders als das Christentum hat der Islam nie den Anspruch erhoben, das wahre Israel zu sein. Während das Christentum an den Tanach anschließt und sich den Text mit einem Gestus der Aufhebung aneignet, ist die schriftliche Tora im Islam zwar auch relevant – in dem Sinne, dass zum Beispiel Moses und die Propheten ernst genommen werden – aber es gibt keine aneignende Aufhebung. Der Islam schließt sehr viel mehr an die mündliche Tora in Form von Halacha und Midraschim an. Die Nähe war so groß, dass einige islamische Erzählungen um die Figuren der Tora im Mittelalter unbemerkt wieder Eingang in die jüdische Tradition finden konnten.

Ulfat: Der Koran bezieht sich auf zahlreiche Erzählungen aus der Tora und verleiht ihnen eine neue Ausrichtung. Es ist davon auszugehen, dass die Menschen jener Zeit diese Geschichten bereits kannten, weshalb eine Wiederholung nicht erforderlich war. Ein Verständnis des Korans ist ohne die Berücksichtigung seiner jüdischen Bezüge kaum möglich. Muhammad selbst orientierte sich ebenfalls an jüdischen Traditionen, erkennbar daran, dass er anfangs in Richtung Jerusalem betete. Juden, die zum Islam konvertierten und die des Lesens und Schreibens mächtig waren, brachten ihre jüdischen Traditionen in die Formierung des neuen Wissens ein. Ein umfassendes Verständnis der Geistes- und Theologie­geschichte erfordert daher die Berücksichtigung dieser gegenseitigen Einflüsse.

Mattern: Auch die Entwicklung der jüdischen Philosophie im Mittelalter kann ohne Kenntnis der muslimischen Gelehrten nicht verstanden werden. Die Rechtsgeschichte des Judentums ist vom Islam beeinflusst, indem Kategorien und Argumentationsweisen des islamischen Rechtsdiskurses in die jüdische Tradition eingegangen sind.

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Forschungsstelle von anderen jüdisch-muslimischen Projekten?
Ulfat:
Wir wollen uns mit drängenden politischen und sozialen Fragen innerhalb des theologischen Rahmens auseinandersetzen. Also eine Brücke zwischen theologischen Überlegungen und gesellschaftlichen Anliegen schlagen.

Mattern: Es geht uns darum, ein Zentrum aufzubauen, in dem jüdische und muslimische Forscherinnen und Forscher, die im theologischen Kontext arbeiten, zusammenkommen können, um gemeinsam zu arbeiten. Ein wichtiges Anliegen von uns ist es, ein Doktorandenprogramm zu initiieren, in dem Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gemeinsam zu Judentum und Islam forschen. Dafür versuchen wir gerade, eine Finanzierung zu bekommen.

»Wir wollen die ›christliche Brille‹ absetzen«

Fahimah ulfat

Im Gegensatz zu anderen interreligiösen Projekten, so scheint mir, klammern Sie das Christliche aus. Warum?
Ulfat:
Wir beabsichtigen keineswegs, das Christentum auszuklammern, aber wir wollen die »christliche Brille« absetzen. Besonders in der Moderne, in einem mehrheitlich christlich geprägten Umfeld wie in Deutschland, werden Begriffe wie Religion, Messias, Offenbarung und so weiter oft unbewusst aus einer christlich geprägten Sicht verwendet. Jüdische und muslimische Traditionen bieten eigene, deutlich unterschiedliche Interpretationen dieser Konzepte. Indem wir unsere eigenen Perspektiven einnehmen und unsere Traditionen durch eigene »Brillen« betrachten, entdecken wir zahlreiche Parallelen.

Mattern: Ich möchte ein Beispiel geben. Den Begriff Säkularisierung verwenden wir im Allgemeinen im Sinne des Christentums als eine Abwendung vom Glauben oder als dessen Privatisierung. Was könnte aber Säkularisierung heißen, wenn es sich auf eine Gesetzesreligion bezieht, die per se eine öffentliche Dimension hat? Ist etwa ein nicht-gläubiger Jude, der aber nach der Halacha lebt, säkular beziehungsweise nicht religiös? Nicht umsonst bedeutet schon das hebräische Wort »Dat«, das unsauber mit Religion übersetzt wird, eigentlich »Gesetz«. In der Moderne ist es tatsächlich zu einer gewissen Verchristlichung des Judentums gekommen, in der die tägliche Praxis durch eine Glaubenshaltung ersetzt wurde.

Warum ist das problematisch?
Mattern:
Juden und Jüdinnen, die nicht traditionell, sagen wir talmudisch, gebildet sind, werden ihr Religionsverständnis aus der allgemeinen Kultur entnehmen, das heißt aus einer christlichen Perspektive. Eine solche Haltung wird zum Teil von christlicher Seite aktiv geprägt: Es gibt vor allem auf protestantischer Seite ein großes Bedürfnis zu betonen, wie ähnlich das Judentum dem Christentum ist. Jahrhundertelang hat man es abgelehnt, weil es so anders war, und nun, im Versuch, die eigene Ablehnung des Judentums zu überwinden, muss man es gleichmachen, statt es in seiner Andersheit anzuerkennen. Hinzu kommt, dass der Schein einer jüdisch-christlichen Identität dabei hilft, den Islam ein Stück weit auszugrenzen. Das führt auch zu einer verqueren Wahrnehmung innerhalb der jüdischen und islamischen Welt selbst. Der jüdisch-muslimische Diskurs kann und muss diese Verstellungen aufbrechen.

»In der Moderne ist es tatsächlich zu einer gewissen Verchristlichung des Judentums gekommen.«

asher mattern

Sie selbst leben nach der Halacha. Ist es eigentlich ein Problem, sich mit säkularen oder islamischen Quellen so intensiv zu beschäftigen?
Mattern:
Das Problem besteht darin, dass die Beschäftigung mit anderen theologischen, philosophischen oder kulturellen Inhalten dazu führen kann, dass die eigene Tradition durch eine fremde Brille gesehen wird, oder sogar die Dynamik der mündlichen Tora unter einer Inspiration weiterentwickelt wird, die nicht aus unserer Tradition kommt. Für mich persönlich stellt sich die Situation so dar, dass ich über die Philosophie in eine halachische Lebensweise gefunden habe und deshalb zumindest nicht befürchten muss, dass mich philosophische Reflexionen aus der Tradition herausführen. Das Problem ist tatsächlich sehr ernst zu nehmen. Die Beschäftigung mit dem Islam steht aber sicher nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zu unserer Tradition, da er keinesfalls als Awoda sara, also als Götzendienst, zu verstehen ist.

Ulfat: Für mich ist das weniger ein Problem. Dadurch, dass der Islam aus der jüdischen und christlichen Tradition hervorgegangen ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auch mit diesen beiden Traditionen zu beschäftigen.

Sie erwähnten aber auch, dass der Islam eine missionierende Religion ist. Es kommt also früher oder später zur Wahrheitsfrage. Steht die nicht dem interreligiösen Diskurs im Wege?
Ulfat:
Ich verstehe den Islam als eine innere Haltung und nicht als eine Entität, die sich meiner bemächtigt. Im Koran geht es um die Verwirklichung des Menschseins, ein Grundgedanke, der auch in anderen Religionen zentral ist. Das ist die Grundlage, die uns verbinden kann. Aus meiner Sicht ist die Vorstellung einer absoluten Wahrheit eine Illusion.

Mit den Leitern der Jüdisch-Islamischen Forschungsstelle in Tübingen sprach Mascha Malburg.

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