Talmudisches

Die Tora als Elixier

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Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024 10:38 Uhr

Der Talmud lehrt, dass die Tora sowohl ein Elixier des Lebens als auch ein Elixier des Todes ist. So heißt es im Traktat Jevamot 72b: »Wer sich würdig erweist, für den ist die Tora ein Elixier des Lebens, wer sich unwürdig erweist, für den erweist sich die Tora als ein Elixier des Todes.«

Diese Aussage erinnert stark an eine talmudische Aussage aus dem Traktat Sota. Dort heißt es: Wenn ein Mann und eine Frau sich in der Ehe mit Liebe und Würde behandeln, dann wohnt die Präsenz Gʼttes unter ihnen. Sobald die Partner einer Beziehung aber egoistisch handeln, wird die Beziehung gleich einem Feuer verbrannt (17a).

Diese Lehre basiert auf den Buchstaben der Wörter Mann, Frau, Feuer und Gʼtt. Das Wort für Mann ist »Isch«, das Wort für Frau ist »Ischa«. Die gemeinsamen Buchstaben von Mann und Frau sind Alef und Schin, diese ergeben das Wort »Esch« – Feuer. Die nicht gemeinsamen Buchstaben der Wörter »Mann« und »Frau« bilden zusammen einen der Namen Gʼttes (Jud – Heh). Die Buchstaben der Wörter Mann und Frau ergeben also die Wörter Feuer, Gʼtt, Feuer.

Die Weisen vergleichen also die Beziehung mit dem Text der Tora mit der Ehe

Die Weisen vergleichen also die Beziehung mit dem Text der Tora mit der Ehebeziehung. Wenn die Charaktereigenschaften stimmen, können die Tora und die Ehe das Schönste auf der Welt sein, wenn die Charaktereigenschaften nicht stimmen, dann können die Tora und die Ehe zur Hölle auf Erden werden.

Während es im Fall einer Ehe klar ist, warum Charaktereigenschaften in einer intimen zwischenmenschlichen Beziehung wichtig sind, scheint es bei der Tora unklar zu sein. Die Tora ist ein Text – reicht es nicht, den Text zu lernen? Sind es nicht die intellektuellen Fähigkeiten, die jemanden zum Erfolg im Studium verhelfen, und erst zweitrangig sind es die Charaktereigenschaften?

Nein! Die Tora ist nicht wie ein gewöhnliches Buch geschrieben. Der Zohar lehrt: »Wenn die Engel auf die Erde herabsteigen, kleiden sie sich in die Gewänder dieser Welt. Wenn sie es nicht täten, wären sie nicht in der Lage, diese Welt zu ertragen, und die Welt wäre nicht in der Lage, sie zu ertragen. Wenn das für die Engel so ist, um wie viel mehr gilt das für die Tora, durch die diese Engel und alle Welten erschaffen wurden! Als die Tora auf diese Welt herabkam, wenn sie sich nicht in all diese Gewänder gehüllt hätte, hätte die Welt es nicht ertragen können. Daher ist diese Geschichte der Tora das Gewand der Tora« (Zohar, Behaʼalotcha 252).

Die Gebote der Tora gleichen einem Gewand. Ein Gewand schützt den Körper, und ein Gewand versteckt den Körper. Wer nur die dicke Jacke sieht, kann nicht den Körper unter der Jacke erkennen. Die Tora ist in einer Art und Weise aufgebaut, dass sie den Unwürdigen in die Irre führt und dem Würdigen ihre Geheimnisse offenbart.

Die Tora führt den Unwürdigen in die Irre und offenbart dem Würdigen ihre Geheimnisse

Daher zeichneten sich die großen talmudischen Gelehrten vor allem durch ihre Bescheidenheit, Gʼttesfurcht, Nächstenliebe und ihren Optimismus aus und nicht durch ihre Gelehrsamkeit und nicht durch ihr großes Wissen. Ein Beispiel: In der Tora sagt Gʼtt vor der Schöpfung des Menschen: »Lasst uns Menschen machen« (1. Buch Mose 1,26).

Unsere Weisen lehren, dass Gʼtt sich vor der Schöpfung des Menschen an die Engel gewandt hat, um sich mit diesen zu beraten, damit wir für alle Zeiten lernen, dass eine Führungskraft sich immer mit den Mitarbeitern beraten sollte, auch wenn sie die Macht hätte, Entscheidungen allein zu treffen, da selbst Gʼtt sich nicht zu schade war, seine Untergebenen zu fragen.

Der Midrasch lehrt, dass Mosche Gʼtt gebeten hat, diesen Vers umzuformulieren, da er sich sicher war, dass die Menschen dies falsch verstehen und denken würden, es gebe mehrere Götter. Gʼtt sagte ihm: »Schreib, was ich dir diktiere, und wer sich irren will, wird sich irren!«

Es ist so, als hätte die Tora absichtlich Fallen eingebaut, und nur, wer sich als würdig erweist, wird zu den wahren Interpretationen zugelassen.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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