Wajischlach

Wahre Brüder, wahre Feinde?

»Jakob und Esau« auf einem Gemälde aus der Schule Caravaggios. Öl auf Leinwand (um 1625) Foto: picture-alliance / akg-images

Im Mittelpunkt des Wochenabschnitts steht die dramatische Begegnung zwischen Jakow und Esaw. Letzterer wollte Ersteren töten – so jedenfalls hatte er es 20 Jahre zuvor angekündigt, nachdem Jakow und nicht er den Segen des Erstgeborenen erhalten hatte. Deshalb hatte Jakow große Angst vor dieser Begegnung. Er teilte seine Familie, sodass wenigstens ein Teil Esaws vermeintlichen Angriff überleben würde – denn sein Bruder zog ihm mit 400 Männern entgegen. Jakow sprach eines der denkwürdigsten Gebete in der jüdischen Geschichte: »Katonti« – deutsch: »Ich bin zu gering.« Außerdem wollte er Esaw reichlich Vieh als Geschenk überlassen.

Jedoch wich am Ende die Angst der großen Erleichterung. Esaw und Jakow sollten sich nicht als Feinde begegnen, sondern als Brüder. »Da lief Esaw ihm entgegen, umarmte ihn und fiel ihm um den Hals und küsste ihn; und sie weinten.« Er fragte nach dem Wohlbefinden von Jakows Kindern, lehnte zunächst alle Geschenke ab und bot Jakow an, ihn zu begleiten. Esaws zuvorkommende Art erreichte ihren Höhepunkt, als er akzeptierte, dass es in diesem Land nicht ausreichend Platz für sie beide gab. Deshalb zog Esaw mit seiner Familie und seinem Besitz weiter, in die Gegend jenseits des Jordans, in das Gebirge Seir, das Land Edom.

Esaws Mitgefühl und Liebe zu Jakow waren wohl nur vorübergehend

Die Tora beschreibt das Verhältnis zwischen Jakow und Esaw als harmonisch. Das ist umso überraschender, weil es ja eigentlich Esaws Wunsch war, Jakow zu töten, weshalb dieser große Furcht vor dieser Begegnung hatte. Man kann wohl davon ausgehen, dass Esaws Mitgefühl und Liebe zu Jakow nur vorübergehend waren. Die Erklärung für diese Interpretation findet sich in dem Wort »wajischkehu« – deutsch: »Und er küsste ihn.«

Wer in einer Torarolle liest, wird sehen, dass über diesem Wort ungewöhnlicherweise Punkte stehen. Vielleicht motivierte genau das Rabbi Schimon bar Jochai (Sifri Bamidbar 69) zu folgender Aussage über diese Situation: »Es ist eine Halacha – Esaw hasst Jakow. Aber in diesem Moment wurde sein Mitgefühl geweckt, und er küsste ihn mit ganzem Herzen.« Laut Rabbi Schimon bar Jochai sei Esaws Hass auf Jakow konstanter Natur und unveränderlich, während die Liebe, die Esaw in diesem Moment zeigte, nur für den Augenblick, also lediglich vorübergehend war.

Rund 1400 Jahre später bestätigt Don Isaak Abrabanel in seiner Interpretation der Endzeitprophezeiung in Jeschajahu 35 diese Auffassung, indem er »Esaw« und »Edom« zu Metaphern für das Römische Reich und das Christentum erklärt. Ob dabei die Tatsache, dass Don Isaak Abarbanel 1492 aus dem katholischen Spanien vertrieben wurde, einen Einfluss auf diese Interpretation hatte, ist nicht unwahrscheinlich – aber das spielt keine Rolle. Denn diese Metapher sollte sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem theologischen und nationalen Fundament im jüdischen Verhältnis zu Europa und zum Christentum entwickeln, die bis in unsere Tage wirkt.

Eine der stärksten Bestätigungen für diese Deutung wurde in den 70er-Jahren in den Vereinigten Staaten von Rabbiner Moshe Feinstein, einem der größten jüdischen Gelehrten des vergangenen Jahrhunderts, in seinem Responsenwerk Igrot Mosche formuliert. Seine halachischen Entscheidungen gelten als so grundsätzlich, dass sie in verschiedenen Diskussionen dazu nicht ignoriert werden können.

So schrieb Feinstein als Antwort auf eine zivilrechtliche Fragestellung, die in Großbritannien verhandelt wurde: »So wie die Halacha unveränderlich ist, so bleibt auch der Hass Esaws auf Jakow unveränderlich.«

Nachdem wir nun die beiden unterschiedlichen Perspektiven auf die Begegnung der Brüder kennengelernt haben, zeigt sich folgende Problematik: Auf der einen Seite beschreibt unser Wochenabschnitt die Harmonie zwischen Jakow und Esaw – und auf der anderen Seite betrachtet die theologisch-historische Auslegung Esaw als ewigen Feind des jüdischen Volkes. Wie kommt es zu dieser großen Kluft?

Eine mögliche Antwort lautet: tiefe Enttäuschung sowie ein Vertrauensbruch zwischen Jakow/Israel und Esaw/Edom.

Mosche erwähnt in seiner letzten Rede im 5. Buch Mose die Völker, denen man sich nicht nähern oder aus deren Mitte niemand geheiratet werden darf. Dennoch fügt er hinzu: »Du sollst den Edomiter nicht verabscheuen, denn er ist dein Bruder« (5. Buch Mose 23). Esaw/Edom ist also ein Bruder. Es stimmt, dass Esaw Jakow verfolgte. Und es stimmt ebenfalls, dass Edom dem Volk Israel die Möglichkeit verweigerte, auf dem Weg nach Israel durch sein Land zu ziehen, um den Weg durch die Wüste abzukürzen. Aber mit Brüdern kann man sich versöhnen und die Zukunft anders, also gemeinsam gestalten. Wie bereits erwähnt, zeigte Esaw durch sein rücksichtsvolles Handeln, dass er fähig war, ein guter Bruder zu sein.

Gerade weil man von Edom, dem Nachfolgevolk Esaws, mehr erwartet hätte, ist die Enttäuschung so groß. Es hatte sich systematisch an der Seite von Israels Feinden positioniert. Dies wird auch von dem Propheten Obadja in der Haftara zum Wochenabschnitt, zumindest in einigen aschkenasischen Gemeinden, beklagt. »An dem Tag, als du abseits standest, an dem Tag, als Fremde seinen (Israels) Besitz einnahmen.« Von Edom hätte man erwartet, dass er seinem Bruder Israel hilft. Doch Edom stand nicht nur abseits, sondern verbündete sich sogar mit Israels Feinden. Deshalb schließt der Prophet Obadja mit den Worten: »Und Retter werden auf den Berg Zion hinaufziehen, um das Gebirge Esaws zu richten.«

Esaw und Edom, also die Völker Europas und das Christentum, haben das jüdische Volk im Laufe der Jahrhunderte immer wieder tief enttäuscht. Daher ist es kaum verwunderlich, dass der Satz »Es ist eine Halacha: Esaw hasst Jakow« beim jüdischen Volk auf große Resonanz stieß. Die Frage ist, ob es möglich ist, eine andere Perspektive einzunehmen. Kann das Gebot »Du sollst den Edomiter nicht verabscheuen, denn er ist dein Bruder« wieder Relevanz gewinnen? Kann zwischen den Völkern Europas, dem Christentum, und dem jüdischen Volk wieder so etwas wie Brüderlichkeit entstehen? Oder gilt weiterhin: »Es ist eine Halacha: Esaw hasst Jakow«?

Dies bleibt eine offene Frage. Sowohl Esaw und Edom als auch Jakow und Israel tragen Verantwortung dafür, sie irgendwann zu lösen.

Der Autor ist Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.

INHALT
Der Wochenabschnitt Wajischlach erzählt davon, wie Jakow sich aufmacht, seinen Bruder Esaw zu treffen. In der Nacht kämpft er am Jabbok mit einem Mann. Dieser ändert Jakows Namen in Jisra-El (»G’ttes Streiter«). Jakow und Esaw treffen nach 20 Jahren voller Harmonie zusammen – und gehen anschließend doch wieder getrennte Wege. Später stirbt Rachel nach der schweren Geburt Benjamins und wird in Efrat beigesetzt. Als auch Jizchak stirbt, begraben ihn seine Söhne Jakow und Esaw in Hebron.
1. Buch Mose 32,3 – 36,43

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