Hildesheimer Vortrag

»Verletzliche Mehrheit«

Seit Dezember 2013 ist es gute Tradition: Rabbiner oder Wissenschaftler von internationalem Rang halten in der Berliner Humboldt-Universität einmal pro Jahr einen Vortrag in Erinnerung an Esriel Hildesheimer, der 1873 das erste orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin gegründet hatte.

Am Montagabend war es bereits das vierte Mal: Der südafrikanische Oberrabbiner Warren Goldstein sprach vor etwa 200 Zuhörern (Rabbinern, Juristen, Studenten und interessierten Laien) über das Thema »Defending Human Spirit – a Jewish Law Perspective on Protecting the Vulnerable«. Seine Ausführungen über den Schutz verletzlicher Menschen in der Gesellschaft und über »westliches« und jüdisches Recht standen auch im Zeichen der Flüchtlingskrise und der Bedrohung durch Terror.

These Bereits in der Einleitung von Rabbiner Andrew Savage, Deutschland-Direktor der Ronald S. Lauder Foundation und Vorstandsmitglied des Kuratoriums des Rabbinerseminars, kam eine von Goldsteins zentralen Thesen zur Sprache. Savage sagte, die Tora betone das Recht des Schwächeren, weil die Juden selbst Fremde in einem fremden Land gewesen seien. Doch heute gelte auch: »Es sind nicht immer nur Minderheiten, die verletzlich sind.«

Konkret nannte Rabbiner Savage den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidtplatz am 19. Dezember 2016 »nur einige Kilometer von hier entfernt, oder die Promenade in Nizza«. Die Mehrheit entdecke derzeit, »dass sie sehr verletzlich ist und des Schutzes bedarf. Wer ist also verletzlich? Jeder – und überall«, so Andrew Savage.

»Wir leben in verwirrenden und gefährlichen Zeiten – und in Zeiten, die enorme Chancen bieten«, sagte Oberrabbiner Warren Goldstein zu Beginn seines Vortrags. Gerade in solchen Zeiten sei es geboten, sich auf der Suche nach tieferen Einsichten dem jüdischen Recht zuzuwenden.

Die Tora gebiete, die Verletzlichsten einer Gesellschaft zu beschützen – wie Fremde, Sklaven oder eines Verbrechens beschuldigte Angeklagte. Doch zu bestimmten Zeiten könne auch die Gesellschaft selbst als ihr schwächster Teil gelten, führte Goldstein aus.

Dilemma Europa stehe derzeit vor einem großen Dilemma. Einerseits seien Flüchtlinge »die verletzlichsten Menschen auf Erden: Wer kann verletzlicher sein als jemand, der kein Haus hat, keine Sicherheit, keine Bildungsmöglichkeiten für die Kinder und nichts, das er seinen Kindern zu essen geben kann?«, fragte Goldstein. Andererseits seien auch Menschen verletzlich, die Terror ausgesetzt sind: »Es ist gleichzeitig ein moralisches Prinzip, sich um Flüchtlinge zu kümmern, aber es ist auch ein moralisches Gebot, die Gesellschaft vor Terrorattacken zu beschützen.«

Das »vulnerability principle« im Judentum könne Menschen die Augen für eine ultimative Vision öffnen, was das Ziel einer Gesellschaft sein solle, sagte Goldstein. Er zitierte Rabbiner Naphtali Zwi Juda Berlin (1816–1893) mit dessen Auslegung des Gebots, Fremde gut zu behandeln, weil die Juden selbst Fremde in Ägypten waren: »Die konventionelle Lesart heißt, wir sollen sie gut behandeln, weil wir wissen, was Leiden bedeutet.«

Potenzial Rabbiner Berlin habe den Vers aber anders interpretiert: »Sei gut zu dem Fremden, weil du sein Potenzial nicht kennst.« Von einer in Ägypten unterdrückten Gruppierung habe sich das jüdische Volk zu einer großen Nation entwickelt, so Goldstein. »Wir kennen das großartige Potenzial des menschlichen Geistes.«

Ziel von Staat und Gesellschaft müsse es sein, eine Umgebung zu schaffen, in der jeder Mensch sein maximales Potenzial verwirklichen könne. Es gehe nicht darum, sich um Menschen zu »kümmern« und sie paternalistisch zu behandeln, sondern darum, dass Menschen, die als Ebenbild Gottes geschaffen seien, Größtmögliches erreichen könnten: »Eine Welt, in der der menschliche Geist die Größe unseres Schöpfers reflektiert.«

Der Hildesheimer Vortrag ist eine regelmäßige Kooperation zwischen dem Rabbinerseminar zu Berlin und den Berliner Studien zum Jüdischen Recht an der Humboldt-Universität. Den ersten Vortrag im Dezember 2013 hielt Pinchas Goldschmidt, Oberrabbiner von Moskau und Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz. Im Januar 2015 folgte Nahum Rakover, ehemaliger stellvertretender Generalstaatsanwalt Israels. Den dritten Hildesheimer Vortrag im Dezember 2015 hielt der frühere britische Oberrabbiner Lord Jonathan Sacks.

Redner Am Montagabend begrüßte Christian Waldhoff, Dekan und Professor für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität, die Gäste. Ein kurzes Grußwort sprach Martin Heger, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Europäisches Strafrecht und Neuere Rechtsgeschichte.

Michael Grünberg, Mitglied des Kuratoriums des Rabbinerseminars zu Berlin und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Osnabrück, sagte in seinem Schlusswort, ihn mache die Existenz des 2009 wiedergegründeten Rabbinerseminars sehr stolz: »Das bedeutet, dass die Tradition weitergegeben wird – und Generationen von Juden entsprechend dem jüdischen Gesetz leben und ein Teil davon sein werden.«

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025