Bestrafung

Vergelt’s Gott

Rache sollte man dem Ewigen überlassen. In dieser Welt muss Entschädigung geleistet werden

von Rabbiner Andreas Nachama  09.02.2015 17:36 Uhr

Wer seinen Nächsten verwundet, hat dafür zu zahlen, schreibt der Talmud. Foto: Thinkstock

Rache sollte man dem Ewigen überlassen. In dieser Welt muss Entschädigung geleistet werden

von Rabbiner Andreas Nachama  09.02.2015 17:36 Uhr

Nachdem die Kinder Israels im vergangenen Wochenabschnitt die Zehn Gebote empfangen haben, geht es nun um Rechtsvorschriften. Mosche erhält von Gott die Anweisung, den Israeliten Gesetze vorzulegen. Die aus der Sklaverei Entronnenen bekommen nicht nur die Zehn Gebote, eine Grundordnung für das menschliche Zusammenleben, sondern auch ein Gesetzbuch für das Alltägliche. 53 der 613 in der Tora enthaltenen Ge- und Verbote fallen auf den Wochenabschnitt Mischpatim – nicht weniger als neun Prozent.

Dabei gibt es auch Neuerungen, die unsere Welt, würden sie konsequent angewendet, erheblich lebenswerter und menschlicher machen könnten. Sie würden es aber auch nötig machen, sich von Berichten abzuwenden, die an anderen Stellen im Tanach beschrieben werden: So lesen wir im 1. Buch Mose von dem Rachefeldzug, den Levi und Simeon, zwei Söhne Jakows, unternahmen, weil man ihre Schwester Dina vergewaltigt hatte. Sie überfielen die Stadt der Schechemiten und erschlugen alle Männer.

Hier wurden aus Rache für die Vergewaltigung der Schwester in großer Zahl Fremde erschlagen. Der greise Stammvater Jakow sprach zu Simeon und Levi: »Ihr bringt mich ins Unglück, da ihr mich bei den Kanaanitern und Perissitern, den Landeseinwohnern, verhasst gemacht habt. Wir sind ja nur klein an Zahl; sie werden sich gegen mich zusammenrotten und mich erschlagen, und ich werde samt meinem Haus vernichtet« (1. Buch Mose 34,30). Der Patriarch tadelt zwar den unangemessenen Rachefeldzug, doch er tut es allein deshalb, weil seine Familie zahlenmäßig unterlegen ist.

Ersatz Im Abschnitt Mischpatim wird ein anderer Weg propagiert: »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme! (...) Wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn ausschlägt, soll er die Person als Ersatz für den Zahn freilassen« (2. Buch Mose 21, 24–27).

Awraham Ibn Esra (1092–1167) merkt zu der Textstelle an: »Wenn der Täter ein armer Mann ist, wie kann dann Entschädigung aussehen? Würde ein Blinder einem anderen ein Auge ausstechen, was könnte man ihm dann noch tun? Der Arme könnte zu Geld kommen und dann doch seine Entschädigung zahlen, aber der Blinde könnte es niemals tun.«

Die Schrift meint deshalb immer Entschädigung und nichts anderes. Der unbegrenzte, auf die ganze Sippe oder Ortschaft der Täter ausgedehnte Rachefeldzug der Söhne Jakows aus dem 1. Buch Mose wird durch das gänzlich andere Rechtsprinzip der Entschädigung ersetzt.

Rabbi Élie Munk (1900–1981) merkt an: Auch dort, wo auf Mord die Todesstrafe steht, ist sie nur symbolisch. Munk bezieht sich hierbei auf die Schöpfungsgeschichte: »Wenn ihr vom Baum der Erkenntnis esst, werdet ihr sterben« (1. Buch Mose 2,17). Es war ein anderes Leben, das Adam und Chawa damals führten – »sterben« bedeutete in ihrem Fall nicht das Lebensende.

Schmerzensgeld Im Talmud wird das Symbolhafte der Strafe weiter ausgeführt: »Wer seinen Nächsten verwundet, hat fünf Zahlungen zu leisten: Schadenersatz, Schmerzensgeld, Kurkosten, Versäumnisgeld und Beschädigungsgeld. Wenn er ihm ein Auge geblendet, eine Hand abgehauen oder einen Fuß gebrochen hat, so betrachte man ihn als einen auf dem Markt zu verkaufenden Sklaven und man schätze, wie viel er vorher und wie viel er jetzt wert ist« (Bava Kama 83b–84a).

Rache wird also durch materielle Entschädigung ersetzt, die nach Regeln festgelegt ist. Die Rabbinen verwerfen ganz prinzipiell die irdische Rache. In Joma 23a heißt es: »Wenn jemand einen ersucht, ihm eine Sichel zu borgen und dieser ablehnt, worauf umgekehrt am folgenden Tag er jenen ersucht, ihm eine Axt zu borgen, und der erste erwidert: ›Ich borge dir nichts, weil du mir nichts geborgt hast‹, dann ist das Rachsucht.«

Die Rabbinen setzen einen Toravers dagegen: »Sei nicht rachsüchtig und trage den Söhnen deines Volkes nichts nach, sondern liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Ich bin der Ewige!« (3. Buch Mose 18,19). Und sie ergänzen ihn mit dem Psalmwort: »Verherrlichung dem Gott meines Heils! Dem Gott, der mir Rache gibt und Völker unter mich zwingt, der mich vor Feinden schützt« (Tehilim 18, 47–49).

Taten Bei Gott ist die Rache sehr gut aufgehoben. Er ist gerecht, und wer vor ihn tritt, wird nach seinen Taten beurteilt. Mir persönlich ist wohl dabei, dass die Rache bei Gott ist. Rache ist kein jüdisches Konzept für diese Welt, sondern sie wird schon in der Bibel dem Walten Gottes überantwortet. In den Worten von Rabbi Papa: »Der Mensch, der Rache übt, zerstört sein Heim« (Sanhedrin 102b).

Die chassidische Paraphrase des Bibeltextes nach Rabbi Menachem Schneerson (1902–1994) schafft endgültig Klarheit: »Eine Entschädigung muss gezahlt werden: Der Wert eines Auges für ein Auge, der Wert eines Zahns für einen Zahn …« Was also hier auf der Welt zu regeln ist, das legen Gerichte im Sinne von Strafmaß und Entschädigung fest.

Der Autor ist Rabbiner der Berliner Synagoge Sukkat Schalom.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Mischpatim wird auch als Buch des Bundes bezeichnet. Hier geht es um Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Der zweite Teil besteht aus Regelungen zur Körperverletzung, daran schließen sich Gesetze zum Eigentum an. Den Abschluss der Parascha bildet die Bestätigung des Bundes. Am Ende steigen Mosche, Aharon, Nadav, Avihu und die 70 Ältesten Israels auf den Berg, um den Ewigen zu sehen.
2. Buch Mose 21,1 – 24,18

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