Leitgedanke

Unter fremder Herrschaft

Was Chanukka und die Josefsgeschichte miteinander zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  12.12.2017 11:17 Uhr

Sarkophag eines ägyptischen Pharaos Foto: Thinkstock

Was Chanukka und die Josefsgeschichte miteinander zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  12.12.2017 11:17 Uhr

Unser Wochenabschnitt beginnt mit dem Bericht vom Traum des Pharaos. Der Herrscher träumt von fetten und mageren Kühen und davon, wie die dürren die wohlgenährten auffressen. Der Traum wiederholt sich mit fetten und dürren Ähren. Dies beunruhigt den Pharao.

Im Alten Orient maß man Träumen große Bedeutung bei. Besonders, wenn es sich um den Traum eines gottähnlichen Herrschers handelte. So ist es verständlich, dass alle Höflinge bemüht waren, die Träume des Pharaos zur allgemeinen Beruhigung zu deuten oder deuten zu lassen.

Einer der Beamten erinnerte sich an einen Hebräerjungen. Dieser hatte ihm im Gefängnis die Träume zu seinen Gunsten deuten können. Und als keiner bei Hofe imstande war, eine für den Pharao zufriedenstellende Deutung zu finden, holte man Josef auf Befehl des Herrschers aus dem Gefängnis, in dem er schon sehr lange – unschuldig – saß.

Deutung »Die sieben schönen Kühe bedeuten sieben Jahre, und die sieben schönen Ähren bedeuten sieben Jahre – es ist ein und derselbe Traum. Er deutet auf sieben Jahre des Wohlergehens. Dagegen bedeuten die sieben mageren und schlechten Kühe, wie auch die sieben leeren, ausgetrockneten Ähren sieben Jahre des Hungers« (1. Buch Mose 41, 26–27) – so lautete Josefs Erklärung zu den Träumen des Pharaos.

Er ließ es aber nicht bei der Deutung bewenden, sondern fügte noch einen Rat hinzu: »Nun aber möge der Pharao sich einen verständigen und weisen Mann ersehen und ihn über das Land Ägypten setzen« (41,33). Dieser soll in den Jahren des Wohlstands die Lebensmittel für die kommenden mageren Jahre im Land sammeln, lagern und den Verbrauch koordinieren.

Man kann davon ausgehen, dass Josefs Deutung beinahe revolutionär anmutete. Besonders, wenn man sie mit der der ägyptischen Höflinge vergleicht. Nach dem Midrasch sagten sie: »Sieben Töchter gebären dir deine Frauen, und sieben Töchter wirst du auch zu Grabe tragen.«

Was könnten im Traum des Herrschers, nach Einstellung der Höflinge, die sieben fetten Kühe sonst bedeuten, wenn nicht Prinzessinnen? Und die sieben unansehnlichen wären natürlich ein Hinweis auf ihren Tod. Wie könnte es anders sein? Ein Herrscher wie der Pharao würde nicht einmal im Schlaf etwas mit dem Schicksal des gemeinen Volks verbinden.

Ein anderer Höfling wollte die Deutung auf eine politische Ebene stellen: »Sieben Länder wirst du erobern, hoher Herr, und sieben Länder werden gegen dich rebellieren.« Auch diese Lösung berücksichtigt die Menschen im Land nicht im Geringsten. Gegenüber solchen Deutungen waren die des Josef wahrhaftig revolutionär. Er ließ den Herrscher wissen, dass ohne die geeigneten Maßnahmen eine Katastrophe drohe.

Diese Deutung scheint Eindruck auf den Pharao gemacht zu haben, denn daraufhin ernannte er Josef, einen Hebräer, einen Ausländer, zu seinem Bevollmächtigten, zum Vizekönig.

Kämpfe Diesen Toraabschnitt trägt man stets an jenem Schabbat vor, der in die Woche des Chanukkafests fällt. Der verbindende Leitgedanke sind die Kämpfe einer Minderheit gegen die feindliche und mächtige Mehrheit.

Wir gedenken an Chanukka der standhaft-mutigen Makkabäer, vieler namenloser Handwerker und Landwirte, die ihr Judentum tapfer vor dem Untergang bewahrten. So wie die Josefsgeschichte schließt auch die Chanukkageschichte, die Erzählung vom Freiheitskampf und dem Ölwunder im Jerusalemer Tempel, mit einem Happy End. Die Freiheit des Landes und die freie Religionsausübung werden also wiederhergestellt, und der Tempel in Jerusalem dient wieder als Heiligtum des gesamten Volkes.

Doch was dann geschah, finden wir seltener als Erzählgut – obwohl auch diese Teile der Geschichte sehr lehrreich sind: Einige Jahre nach ihrem Sieg ließen sich die Makkabäer die Ämter des Nassi, des Fürsten, wie auch des Hohepriesters und des Heerführers als erbliche Würde verleihen. Mit dieser Ämterhäufung entfernten sie sich zusehends von ihren ursprünglichen Zielen, nämlich, das Land gegen fremde Einflüsse zu verteidigen.

Sie unternahmen ausgedehnte Eroberungszüge, suchten mächtige Verbündete, die sie in Rom und Sparta zu finden meinten. Und schon eine Generation später regierte der makkabäische Herrscher Jochanan Hyrkan wie ein hellenistischer Despot. Er führte sich genauso auf wie diejenigen, gegen die seine Väter gekämpft hatten.

Machtbesessen Vergeblich verlangten die Pharisäer – das war die Partei der Traditionalisten, der Handwerker und Landwirte – vom eigenmächtigen Herrscher, er möge gemäß den bewährten jüdischen Traditionen aufs Hohepriesteramt verzichten und sich auf die Verwaltung der Macht beschränken.

Doch der Herrscher weigerte sich, wandte sich von den Pharisäern ab und verbündete sich mit der Partei der Sadduzäer, der Patrizier und der Geschäftsleute. Diese Gruppe war, wie früher schon, bereit, die nationalen, religiösen Werte zugunsten der eigenen wirtschaftlichen Vorteile zu opfern.

Diese Entwicklung verstärkte sich während der Herrschaft der nachfolgenden Fürsten, die sich als Könige bezeichneten. Doch dies galt als offener Traditionsbruch. Denn der König musste aus dem Hause Davids stammen.

Unter der Herrschaft von König Alexander Jannai brach schließlich ein sechs Jahre dauernder Bürgerkrieg zwischen den beiden Gruppierungen aus. Die Witwe des brutalen, rachsüchtigen Herrschers Jannai, Salome Alexandra, die seine Nachfolgerin geworden war, suchte klug den Ausgleich und den Frieden mit den Pharisäern und räumte ihnen Rechte ein. Doch kam dieser Ausgleich zu spät.

Inzwischen mischte sich eine andere starke Macht in die Geschicke des jüdischen Landes ein: Rom. Im Jahr 64 v.d.Z. erschien der römische Feldherr Pompejus an der Grenze Judäas. Nach dem Tod von Salome Alexandra mischte sich der Römer in die inneren Machtkämpfe ein und eroberte Jerusalem. Er gliederte den jüdischen Staat in die römische Provinz Syrien ein und verlangte Tributzahlungen an Rom. So fiel die von den Makkabäern errungene jüdische Unabhängigkeit nach kaum 100 Jahren der antiken Supermacht Rom zum Opfer.

Was während der Ereignisse, derer wir an Chanukka gedenken, errungen worden war, wurde verspielt, weil Machtfixiertheit und Eigennutz stärker waren als das Engagement für die Interessen der breiten Bevölkerung.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

Inhalt
Paraschat Mikez erzählt von den Träumen des Pharaos, die niemand an seinem Hof deuten kann – außer Josef. Er sagt voraus, dass nach sieben üppigen Jahren sieben Jahre der Dürre kommen werden, und empfiehlt dem Pharao, Vorräte anzulegen. Der Herrscher betraut ihn mit dieser Aufgabe. Dann heiratet Josef: Er nimmt Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters, zur Frau. Sie bringt die gemeinsamen Söhne Efraim und Menasche zur Welt. Dann kommen wegen der Dürre in Kanaan Josefs Brüder nach Ägypten,
um dort Getreide zu kaufen.
1. Buch Mose 41,1 – 44,17

Ha'Asinu

Die Kraft der Musik

Der Tanach enthält bedeutende Lieder – aber auch beim Beten, Lesen und Toralernen wird gesungen

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  02.10.2024

Mizwot

613 Kerne, 613 Chancen

Mosche Sofer schrieb im 18. Jahrhundert, dass der Granatapfel genauso viele Kerne enthält, wie die Tora Gebote und Verbote zählt. Hier stellen wir acht vor, die Sie im neuen Jahr ausprobieren können

von Rabbiner Dovid Gernetz  02.10.2024

Rosch Haschana

Es beeinflusst unser Schicksal, wie wir den Neujahrstag begehen

Ein Gastbeitrag von Rabbiner Elischa Portnoy

von Rabbiner Elischa Portnoy  02.10.2024

Israel

David Josef zum neuen sephardischen Oberrabbiner Israels gewählt

Bei der Wahl des aschkenasischen Konterparts kam es hingegen zu einem Patt

 30.09.2024

Familie

»Mein Mann und ich hatten das Gefühl zu versagen«

Seit Jahrtausenden ist es ein jüdisches Ideal, viele Kinder zu bekommen. Doch schon die Tora berichtet, wie kompliziert der Weg dahin sein kann. Hier erzählen zwei Frauen ihre Geschichte

von Mascha Malburg  29.09.2024

Nizawim-Wajelech

Einer für alle

Die Tora lehrt, dass jeder Einzelne Verantwortung für das gesamte Volk trägt

von Yaakov Nektalov  26.09.2024

Antisemitismus-Forschung

Wie Europa im Mittelalter antisemitisch wurde

Donald Trump hat ausgerechnet bei einem Event gegen Antisemitismus angedeutet, die Juden seien schuld, wenn er die Wahl verliere. Was hat Antisemitismus von heute mit dem Mittelalter zu tun?

von Christiane Laudage  24.09.2024

Jüdische Kulturtage

Festzug durch Berlin-Mitte

In einer feierlichen Zeremonie wurde eine neue Torarolle mit den Namen der 1200 israelischen Opfer vom 7. Oktober vollendet

 26.09.2024 Aktualisiert

Interview

»Diese Tora ist ein Zeichen, dass wir überlebt haben«

Micha Mark Farnadi-Jerusalmi über das Schreiben religiöser Texte und den Beruf des Sofers

von Mascha Malburg  22.09.2024