Himmelsleiter

Unsichtbare Paten

Wie oft sind wir Engeln begegnet, bewusst oder auch unbewusst? Foto: Thinkstock, Illustration: Tal Griffit

Himmelsleiter

Unsichtbare Paten

Jakow träumt, wie Engel zu ihm hinabsteigen. Doch auch am Tage beschützen sie ihn

von Rabbiner Walter Rothschild  20.11.2017 16:54 Uhr

Ich führe ab und zu Tests mit Schulklassen durch: Ich bitte die Schüler und Schülerinnen, einen Engel zu beschreiben. Normalerweise kommt Folgendes dabei heraus: Engel sind weiblich, blond, tragen lange weiße Nachthemden und haben Flügel. Und sie lächeln. Ja, sie sind immer gutmütig und hilfsbereit.

Dann frage ich die Kinder, wie eine Fee aussieht. Und darauf folgt normalerweise: weiblich, kurzer Rock und Libellen- oder Schmetterlingsflügel. Ich sage zu den Kindern: »Wie interessant, keiner von euch hat diese Wesen wirklich gesehen, außer in Kinderbüchern, Trickfilmen und im Dezember vielleicht in Schaufenstern – aber doch scheinen alle zu wissen, dass Engel Federvieh sind und Feen Insekten.«

Diese Vorstellungen sind kulturell tief in uns verankert, auch wenn sie ziemlich einfältig sind. In der Tora lesen wir mehrmals von Malachim, Boten Gottes. Zum Beispiel erscheinen einige bei Awraham und gehen dann nach Sodom. Sie sind männlich (zumindest grammatikalisch gesehen) und sehen aus wie normale Menschen, damit sie gut getarnt in Gruppen erscheinen können. Es kommt vor, dass die Menschen, die ihnen begegnen, keine Ahnung davon haben, dass sie mit Malachim reden.

Flucht Im 1. Buch Mose 28 ist Jakow auf der Flucht. Es ist seine eigene Schuld, dass er sein Zuhause verlassen musste. Auf dem Weg hat er einen Traum, in dem er eine Leiter zwischen Erde und Himmel sieht, an der Engel auf und ab steigen.

Viele meinen, sie kennen diese Geschichte. In Vers 12 lesen wir, dass alles ein Traum ist. Oder »nur ein Traum«? Wie ernst sollen wir das nehmen? Träume und Visionen gehören zu den Erzählungen der Bibel, und es stellt sich die Frage, was ihre Besonderheit ist – ob sie von Gott kommen und ob sie prophetische Bedeutung haben können. Das wird hier nicht direkt gesagt: Jakow liegt am Boden und schläft und träumt.

Dann lesen wir: Diese Leiter reichte bis an den Himmel, und Engel Gottes (Malachei Elohim) stiegen auf und ab (sonst wäre es eng auf dieser Leiter geworden). Wie viele Engel? Der Text spricht im Plural von ihnen – sie stiegen –, es gab also mehr als einen.

Nach einer Lesart haben wir es hier mit einer Art Wachablösung zu tun: Die schützenden Engel, die Jakow bisher im Land Israel begleitet hatten, nehmen eine Auszeit, und ihre Plätze werden von anderen übernommen, die für das Ausland zuständig sind, denn jetzt wird Jakow sein Heimatland verlassen und nach Haran gehen. Die verschiedenen Engel haben also offenbar ihre eigenen Dienstbereiche.

Exil Und dann, oben auf der Leiter, steht Gott und spricht den schlafenden Jakow an: »Ich bin Adonai, der Gott deines Vaters Awraham und der Gott Jizchaks.«

Merkwürdig, denn Awraham war eigentlich der Großvater, und Jizchak, seinen Vater, hatte Jakow gerade betrogen. Und Gott sagt auch: »Siehe, Ich bin mit dir, Ich werde dich überall behüten, wohin du gehst, und dich in dieses Land zurückführen.« Das heißt, Jakow wird nicht für immer ins Exil gehen müssen, sein Auslandsaufenthalt soll befristet sein.

Warum hatte Jakow diese begleitenden Engel bisher nicht bemerkt? Waren sie getarnt oder unsichtbar? Nur im Traum kann er sie wahrnehmen. Gab es denn die ganze Zeit diese Engel um ihn?

Und als er aufwacht, wieder mutig und optimistisch und hoffnungsvoll, sieht er dann die neuen Engel auch nicht? Sie werden nicht wieder erwähnt, nicht bei den Begegnungen mit Laban, nicht bei dem Zusammentreffen mit Esaw auf seiner Rückkehr viele Jahre später.

Aber Jakow fühlt sich nicht mehr allein. Jetzt ist er kein Flüchtling mehr, sondern ein Auswanderer mit Plänen, mit der Absicht, sich ein neues Leben aufzubauen und eine Familie zu gründen. Er findet Verwandte, eine Frau (eigentlich mehr Frauen, als er gedacht hatte!) und eine Arbeitsstelle, er wird mehrfacher Vater – und er weiß, dass er irgendwann zurückkommen kann.

Traum Wo sind diese Engel, die im Traum zu ihm nach unten gekommen sind? Der Text sagt nichts darüber. Wo sind sie in seinen späteren Lebensabschnitten, die nicht alle so gesegnet sind: Als er um Rachel und dann um Josef trauern muss, als er nach Ägypten auswandern muss, als er Abschied von seinen Söhnen nimmt? Wir erfahren nichts von alldem.

Wie oft sind wir Engeln begegnet, bewusst oder auch unbewusst? Ich selbst habe das persönlich mehrmals erlebt. Engel sind kein Federvieh, und auch keine Blondinen in langen weißen Nachthemden mit Flügeln – nein, sie sehen aus wie ganz normale Menschen. Es sind Leute, die in mein Leben traten, als ich gerade eine solche Begegnung brauchte. Sie sagten etwas, das ich hören musste, und gerade zur richtigen Zeit. Sie haben mir neue Hoffnung in schweren Zeiten gegeben, mir neue Wege durch die Wüste gezeigt.

Unser Wochenabschnitt beginnt mit vielen Verben: »Wajeze (...), wajelech (...), wajifga (...), wajalan (...), wajikach (...), wajassem (...), wajischkaw (...).« »Er verließ Beer Sheva, er ging auf den Weg, er wollte ausruhen, er nahm einen Stein, er legte sich auf ihn, er ging schlafen« – viele aktive Wörter. Was hier fehlt? Jakow betete nicht, bat niemanden um Hilfe – er fühlte sich auf sich gestellt. Nur wenn er schläft, wenn er sich entspannt, wenn er sich ausruht, ist er für diese Botschaft offen.

Chuzpe Aber Jakow wäre nicht Jakow, wenn er nicht bereit wäre, trotz allem mit Gott zu handeln. Nachdem er aufwachte, stellte er Bedingungen an Gott: »Tu, was Du sagst, dann werde ich an Dich glauben!« (20–22). Die wahre Chuzpe.

Gott kann uns erreichen, wenn wir wach sind oder wenn wir schlafen. Gott kann uns erreichen, wenn wir ruhig sind oder verzweifelt, wenn wir zu Hause sind oder in der Wüste, hier oder im Ausland. Gott kann uns erreichen, wenn wir ihn erwarten – oder ihn nicht erwarten.

»Weseh Scha’ar Haschamajim« – »Und dies ist die Tür zum Himmel«. Nehmen wir also die Klinke in die Hand, und bleiben wir immer bereit, neuen Engeln zu begegnen.

Der Autor ist Rabbiner in Berlin.

Paraschat Wajeze
Der Wochenabschnitt erzählt von einem Traum Jakows. Darin sieht er eine Leiter, auf der Engel hinauf- und hinuntersteigen. In diesem Traum segnet der Ewige Jakow. Nachdem er erwacht ist, nennt Jakow den Ort Beit El. Um Rachel zu heiraten, muss er sieben Jahre für ihren Vater Lawan arbeiten. Doch der führt Jakow hinters Licht und gibt ihm Rachels Schwester Lea zur Frau. So muss Jakow weitere sieben Jahre arbeiten, bis er endlich Rachel bekommt und als reicher Mann seinen Schwiegervater Lawan verlässt.
1. Buch Mose 28,10 – 32,2

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