Talmudisches

Um Wunder bitten

Foto: Getty Images

Talmudisches

Um Wunder bitten

Was unsere Weisen über die Rettung aus Gefahren lehren

von Diana Kaplan  24.01.2025 10:05 Uhr

Es gibt eine bekannte Geschichte von einem Mann, der versucht, sich vor der Flut zu retten. Er hat das absolute Vertrauen in G’tt. Er sitzt da und wartet auf seine Rettung. Zuerst kommt ein Polizist, der ihm helfen möchte, doch der Mann winkt ab. Dann kommt ein Rettungsboot, und erneut sagt der Mann nein. Das Wasser steigt immer weiter, sodass er gezwungen ist, aufs Dach seines Hauses zu klettern.

Als sich ein Hubschrauber nähert, um ihn zu retten, lässt sich der Mann nicht mitnehmen – danach kommt keine weitere Rettung für ihn. Als der Mann vor das himmlische Gericht kommt, fragt er: »Lieber G’tt, ich habe auf Deine Rettung gewartet, warum hast Du mich nicht gerettet?« Darauf sagt der Allmächtige: »Aber mein Sohn, Ich habe dir doch den Polizisten, das Rettungsboot und den Hubschrauber geschickt.«

Der Mann wartete offensichtlich auf ein Wunder und sah nicht, dass die Rettung selbst zwar auf einem gewöhnlichen Weg kam, jedoch von G’tt geschickt worden war.

»Zu welchem Zeitpunkt wird über den Menschen geurteilt? Wenn er eine Brücke überquert«

Zum Thema Wunder sagt der Talmud im Traktat Schabbat 32a: »Zu welchem Zeitpunkt wird über den Menschen geurteilt? Reisch Lakisch sagte: Wenn der Mensch eine Brücke überquert.« Der Talmud fragt: »Nur wenn jemand eine Brücke überquert und zu keinem anderen Zeitpunkt?« Die Antwort: Es ist jeder Ort gemeint, der gefährlich ist.

Der Talmud fährt fort und sagt im Namen von Rabbi Jannai, ein Mensch solle sich niemals willentlich in Gefahr begeben in der Annahme, G’tt werde ihn schon retten. Denn es kann sein, dass er nicht gerettet wird, und falls ja, dann verkürzen sich seine Verdienste auf Erden (wegen dieser Rettung). Der Talmud fügt hinzu, dass Rabbi Zeira an Tagen, an denen ein südlicher Wind wehte, nicht hinausging und zwischen den Palmen spazierte, aus Vorsicht, sie könnten auf ihn fallen.

Die Tora gibt uns wiederholt vor, gut auf uns, unser Leben und unsere Gesundheit aufzupassen. Man lernt aus dem oben Gesagten, dass man sich nicht absichtlich in gefährliche Situationen begeben soll, im Vertrauen darauf, durch ein Wunder gerettet zu werden.

Aber was ist ein Wunder? Allgemein spricht man davon, wenn das Geschehen vom normalen und natürlichen Gang der Dinge abweicht. Obwohl der natürliche Gang der Dinge ebenfalls vom Allmächtigen geleitet wird, können wir durch unser Tun unseren Beitrag leisten, wir bleiben nicht passiv. Bei einem Wunder hingegen sind wir passiv und lediglich Empfänger des Wunders. Wir sehen unsere Grenzen sehr klar, wir können nichts zu dem Wunder beitragen.

Man unterscheidet zwischen offenen und verdeckten Wundern

Man unterscheidet zwischen offenen und verdeckten Wundern. Ein Beispiel für ein offenes Wunder ist die Teilung des Roten Meeres, damit die Juden aus Ägypten hinausziehen konnten. Von einem verdeckten Wunder spricht man dagegen, wenn sich die Geschehnisse im Rahmen des Natürlichen bewegen und sich doch so zusammenfügen, dass das Ergebnis ein Wunder ist, wie bei Purim.

Immer wieder in der Geschichte des jüdischen Volkes kann man die Kraft des gemeinsamen Gebets sehen. Denn auch, wenn ein Einzelner nicht für ein offenes Wunder beten sollte – es sei denn, dieser Einzelne ist ein »großer« Mensch, wie unsere Urmutter Lea, die laut Midrasch dafür betete, dass ein noch ungeborener Junge zu einem Mädchen werden möge –, so darf doch das jüdische Volk für ein offenes Wunder beten, denn man nimmt an, dass die Kraft der kollektiven Verdienste viel höher ist und daher ausreicht, um Zeichen und Wunder für die Gemeinde zu erbitten.

Natürlich darf und sollte jeder für alles beten, was er im Leben benötigt, auch für etwas, was unlogisch erscheint, wie zum Beispiel, dass das monatliche Budget ausreicht, obwohl die eigentlichen Zahlen dagegensprechen, oder für einen Lottogewinn, obwohl die Chancen sehr gering sind. Was zählt, ist unsere Hischtadlut, unser Bemühen, und dazu zählt auch jedes Gebet. So wie es im Psalm 145,18 heißt: »Nahe ist G’tt allen, die Ihn rufen, allen, die Ihn in Wahrheit rufen.«

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

Philosophie

Der Moment des Staunens

Am 13. Juli jährt sich der Geburtstag von Jeanne Hersch zum 115. Mal. Lange wurde die Existentialistin ausgerechnet von der akademischen Forschung marginalisiert – und kaum als jüdische Philosophin wahrgenommen

von Richard Blättel  11.07.2025

Balak

Stärke in Zeiten der Entscheidung

Wie eine uralte Prophezeiung Israels Wesen prägt

von Yonatan Amrani  11.07.2025

17. Tamus

Das ist erst der Anfang

Nun beginnt die jährliche Trauerzeit. Sie soll auf Größeres vorbereiten

von Rabbiner Raphael Evers  11.07.2025

Meinung

Die Kirche schafft sich ab

Jetzt soll ausgerechnet der Antizionismus helfen, den gesellschaftlichen Niedergang der Kirche zu stoppen

von Josias Terschüren  10.07.2025

Nachruf

Er bleibt eine Inspiration für uns alle

Der langjährige Zürcher Gemeinderabbiner Marcel Ebel ist verstorben. Eine Würdigung von seinem Nachfolger

von Rabbiner Noam Hertig  10.07.2025

Talmudisches

Eifersucht: Das bittere Wasser

Unsere Weisen und ein altes Ritual

von Chajm Guski  10.07.2025

Nahost

»Öl ins Feuer des anwachsenden Antisemitismus«

Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt wirft der evangelischen Kirche moralisches Versagen vor und kritisiert eine Erklärung des Weltkirchenrats, in der Israel »dämonisiert« werde

 05.07.2025

Chukat

Ein Tier, das Reinheit schafft

Wir können die Mizwa der Roten Kuh nicht verstehen – aber ihre Bedeutung erahnen

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  04.07.2025

Talmudisches

Die weibliche Idee hinter König David

Was Kabbalisten über Eschet Chajil, die tüchtige Frau, lehren

von Vyacheslav Dobrovych  04.07.2025