Neulich beim Kiddusch

Trumpf beim Beten

Rennauto-Kartenspiel: Welches fährt am schnellsten und hat den größten Hubraum? Foto: JA

Neulich beim Kiddusch

Trumpf beim Beten

Was einem in der Synagoge alles passieren kann

von Chajm Guski  14.11.2011 17:49 Uhr

Als Oberstufenschüler fuhr ich in der Regel mit der U-Bahn zur Schule. Es kam vor, dass ich einen Zug nahm, der nicht mehr ganz so voll war wie am frühen Morgen. Ich neigte damals dazu, die Anfangszeiten eher großzügig auszulegen. Einige Male war ich der einzige Fahrgast in der Bahn. Ich setzte mich auf den erstbesten Platz und erledigte rasch noch ein paar Hausaufgaben.

Manchmal stieg nach vier Haltestellen eine ältere Dame ein. Sie hielt mir bei unserer ersten Begegnung einen unleserlichen Schein unter die Nase. »Stehen Sie auf, junger Mann!«, sagte sie, »Sie sitzen auf meinem Platz.« Die Frau zeigte auf das Symbol über dem Sitz. Es deutete an, man solle für Ältere und Schwangere die Bank räumen. Ich war verwundert, denn alle anderen Plätze in der Bahn waren leer. Dennoch stand ich auf und setzte mich woanders hin.

Prozent-Poker Eines Tages kam jemand, der auch einen solchen Ausweis vorweisen konnte und versuchte, die Dame zu verscheuchen. Triumphierend zückte sie ihren Schwerbeschädigtenausweis: »50 Prozent«. Ihr Gegenspieler lächelte süffisant und zeigte seine Karte: 60 Prozent. Trumpf heißt das Spiel, glaube ich, das man sonst mit Karten von Rennautos spielt. Aber das Prinzip ist das gleiche.

Ein ähnliches Schauspiel beobachte ich manchmal, wenn ich in einer fremden Synagoge zu Gast bin. Nicht alle Plätze sind besetzt, häufig treffe ich auf viele leere Sitzreihen und eine Gemeinde, die kaum einen stabilen Minjan zusammenkriegt. Platzkarten wie in größeren Gemeinden kommen als zusätzliche Einnahmequelle nicht infrage. Oft setze ich mich vollkommen unbedarft in eine leere Sitzreihe und beginne mitzubeten. Bis jemand kommt und mich – mal mehr, mal weniger freundlich – darauf hinweist, dass dies sein Platz sei. Klar, oftmals sind ja auch nur noch 75 andere Plätze frei. Da fällt die Auswahl einer Alternative schwierig.

Das Vorgehen bei meiner Vertreibung ist unterschiedlich. Manche Männer berühren vorsichtig meinen Oberarm. Andere schreien mich an, klopfen mir mit dem Gehstock auf die Schulter oder stoßen mich damit, gerade so, als wollten sie prüfen, ob noch ein Hauch Leben in einem Tierkadaver ist. Einmal zog mir ein Mann einfach den Tallit herunter und machte so auf sein Anliegen aufmerksam.

Beim Kiddusch wiederholt sich das Spiel. Viele Beter haben unsichtbar markierte Plätze. Sich dort hinzusetzen, kann als Eingriff in die Ordnung der Welt verstanden werden.

Hingabe Wer also jemanden bemerkt, der während des ersten Teils der Schabbat-Gebete steht und sich ein wenig hin und her bewegt, soll nicht denken, das geschehe aus religiöser Hingabe. Nein, er sieht mich, wie ich lieber stehen bleibe und so keinem speziellen Platz zuzuordnen bin. Erst wenn ich sicher bin, dass wahrscheinlich niemand mehr kommt, setze ich mich. Oft ist dies kurz vor Schluss.

Beim Kiddusch stehe ich nicht aus Höflichkeit hinter meinem Stuhl, sondern ich warte, bis niemand mehr kommt, der mich wegschicken könnte. Dass das eine einen religiösen Eindruck macht und das andere einen höflichen, ist nur ein Nebeneffekt.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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