Mussar-Bewegung

Selbstdisziplin aus Litauen

Mussar-Bewegung

Selbstdisziplin aus Litauen

Ein neues Buch veranschaulicht, wie die Lehren von Rabbiner Israel Salanter die Schoa überlebten

von Yizhak Ahren  17.10.2025 12:42 Uhr

Mitte des 19. Jahrhunderts entstand im litauischen Judentum eine religiöse Erneuerungsbewegung, die unter dem Namen »Mussar« bekannt wurde. Was bedeutet dieses hebräische Wort, das schon in der Tora (5. Buch Mose 11,2) vorkommt?

Mussar bezeichnet eine sittliche Erziehung. Die gleichnamige Bewegung fordert und fördert eine solche Selbsterziehung, die zu einer Stärkung der Gottesfurcht und zu einer Besserung der Lebensweise führen soll. Neben dem klassischen Talmudstudium sollen Juden sich demnach regelmäßig mit sogenannten Mussar-Schriften beschäftigen, die seit dem Mittelalter moralisch-ethisches Verhalten anmahnen. Mussar kann als Gegenbewegung zum Chassidismus verstanden werden, der eher auf gemeinschaftliche Freude, Ekstase in Gebet und Gesang, Legenden und Mystik setzt.

Kelm, Slabodka und Novardock

Als Begründer der Mussar-Bewegung gilt Rabbiner Israel Salanter (1810–1883). Schüler dieses charismatischen Gelehrten haben seine Ideen in verschiedene Richtungen weiterentwickelt. So wie der Chassidismus verschiedene Gruppen hervorgebracht hat, wie die Gerer, Belzer oder Satmarer, so bildeten sich in der frommen litauischen Bewegung ebenfalls einige »Strömungen«: Kelm, Slabodka und Novardock. Die Besonderheiten dieser »Schulen« beschreibt der israelische Historiker Shlomo Tikochinski, der seit einigen Jahren als Gemeinderabbiner in St. Gallen amtiert, in einem neuen Buch sehr anschaulich.

Schwerpunkt der wissenschaftlichen Studie ist die Geschichte der Mussar-Bewegung vor, während und nach der Schoa. Wie sahen die Weltanschauungen von Kelm, Slabodka und Novardock vor der schrecklichen Katastrophe aus? Wie haben Vertreter der genannten drei Richtungen auf die Ereignisse in der Verfolgungszeit reagiert? Und wie haben sie nach der Schoa das Geschehene bewertet?

Selbst wer schon Abhandlungen über wegweisende Gestalten der Mussar-Bewegung gelesen hat, wird aus Tikochinskis wohldurchdachter Publikation viel Neues erfahren.

Um diese Fragen beweiskräftig zu beantworten, hat Tikochinski sowohl zahlreiche historische Quellen wie Ansprachen der Mussar-Lehrer sorgfältig analysiert als auch die Forschungsliteratur ausgewertet. Selbst wer schon Abhandlungen über wegweisende Gestalten der Mussar-Bewegung gelesen hat, wird aus Tikochinskis wohldurchdachter Publikation viel Neues erfahren.

Lehrreich sind informative Porträts von bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten der Mussar-Bewegung. Hier sei nur ein Beispiel genannt: Rabbiner Gershon Liebmann (1905–1997) hat in einer Jeschiwa der radikalen Novardock-Richtung studiert und sich dann sein ganzes weiteres Leben lang bemüht, die Mussar-Ideale seiner Schule umzusetzen und weiterzugeben. Die Nazis haben ihn und einige Schüler in verschiedene Lager deportiert. Gleich nach der Befreiung im April 1945 hat er im Lager Bergen-Belsen eine Jeschiwa gegründet, die bald ins DP-Lager Zeilsheim übersiedelte. Später wirkte er in Frankreich; er inspirierte Studenten aus Marokko, um den Geist von Novardock wieder zu entfachen.

Der jiddische Schriftsteller Chaim Grade (1910–1982) hat in seiner Erzählung »Mein Streitgespräch mit Hersh Rassejner« (1951) der religiösen Denkweise von Rabbiner Liebman, den er persönlich kannte, ein literarisches Denkmal gesetzt. Tikochinski diskutiert Grades Meisterwerk, das verschiedene Auffassungen schildert, die Juden nach der Schoa vertreten haben.

Lehren aus dem Vernichtungswillen der Nazis

Welche Lehren sind aus dem indus­triellen Vernichtungswillen der Nazis zu ziehen? Diese Frage hat viele Denker der Mussar-Bewegung beschäftigt. Tikochinski referiert diverse Meinungen, die bekannt geworden sind. In einem Punkt waren sich alle einig: Gerade weil die Mussar-Institutionen in Osteuropa brutal zerstört wurden, ist dafür zu sorgen, dass das Anliegen der angeschlagenen Bewegung nicht untergeht. Der Autor berichtet von Bemühungen der Überlebenden, den Geist von Kelm, Slabodka und Novardock in den USA, in Israel und in Westeuropa weiter am Leben zu halten.

Ohne bestimmte Wandlungen war das gesteckte Ziel nicht zu erreichen. Die Fokussierung auf die Arbeit am eigenen Charakter ist mitunter in den Hintergrund getreten. Hingegen haben sich manch andere Aspekte der Mussar-Bewegung in der Welt der Jeschiwot weitgehend durchgesetzt. Dort sind die Ideen von Rabbiner Israel Salanter weiterhin lebendig.

Shlomo Tikochinski: »Finding Solace in Obligation. The Musar Movement and the Shoah in Thought and in Practice«. Yad Vashem Publications, Jerusalem 2025, 91 NIS

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