Trauer

Sein geistiges Erbe weitertragen

Einer der beeindruckendsten jüdischen Denker unserer Zeit: Erinnerungen an Rabbi Lord Jonathan Sacks

von Rabbiner Julian-Chaim Soussan  10.11.2020 09:17 Uhr

Rabbiner Jonathan Sacks sel. A. (1948–2020) Foto: Getty Images

Einer der beeindruckendsten jüdischen Denker unserer Zeit: Erinnerungen an Rabbi Lord Jonathan Sacks

von Rabbiner Julian-Chaim Soussan  10.11.2020 09:17 Uhr

»Ich weiß nicht, was ich schreiben soll!« Verzweifelt starre ich auf das leere Dokument auf meinem Monitor und höre meine Frau rufen: »Nimm doch was von Raw Sacks!« Diesen Dialog habe ich in kleinen Varianten oft in den vergangenen knapp 20 Jahren als Rabbiner mit meiner Frau geführt.

Wenn ich eine Inspiration für eine Rede oder einen Artikel brauchte und nicht vom Fleck kam, war ein Blick in das beeindruckende und freizügig öffentlich zugängliche Repertoire von Raw Sacks häufig die Lösung: Bücher, Artikel, Videos oder Audiobeiträge. Draschot, Schiurim und Interviews. Ja, sogar gezeichnete Sketche und TED-Talk-Beiträge. Er war einer der beeindruckendsten jüdischen Denker unserer Zeit, und wir werden seine Stimme schmerzlich vermissen.

DERECH ERETZ Rabbiner Sacks hat es verstanden, die Auslegung der Tora gegenwärtig werden zu lassen. Er hat dem Prinzip von »Tora im Derech Eretz« (Tora mit weltlicher Bildung) eine eigene Größe verliehen. Denn diese Begriffe stehen bei ihm nicht parallel nebeneinander, er erklärte die Welt anhand der Tora und nutzte dazu nicht nur die klassischen rabbinischen Quellen, sondern ergänzte sie durch sein enormes säkulares Wissen.

Er verstand Toleranz nicht als »Ertragen« des Andersseins, sondern als Ausdruck von Respekt.

Eines meiner Lieblingsbeispiele ist, wie er zur Erklärung der Parascha Lech Lecha, nachdem er Raschi und den Midrasch zitiert, auch Marx, Spinoza und Freud anführte, um die Großartigkeit und Zeitlosigkeit der Tora logisch nachvollziehbar zu machen, und dabei (religions-)interessierte Juden aller Ausrichtungen faszinieren konnte. Gleichzeitig schaute er immer auch weit über den jüdischen Tellerrand hinaus.

In einem Interview erzählte er einmal, dass er nach einem Vortrag von einem jungen ausländischen Studenten angesprochen wurde. Dieser sagte ihm, er habe sich immer wegen seiner Religion und Herkunft minderwertig gefühlt, weil er anders als die Mehrheitsgesellschaft sei: »Heute fühle ich mich durch Sie zum ersten Mal stolz auf das, was ich bin.«

RESPEKT Eines der großen Themen für Rabbiner Sacks war es, wie Religionen zum besseren Miteinander beitragen können und in einer zersplitterten Welt auch müssen. Dazu war es zunächst nötig, Raum und Gehör für eine besondere Art von Respekt zu schaffen. Nicht nur im Sinne von Toleranz, bei der man den anderen in seiner Andersartigkeit »erträgt«, die Unterschiede »aushält«, sondern indem man sie als Bereicherung der Gesellschaft empfinden soll.

Die Würde des Andersseins (wieder) herzustellen – »Dignity of Difference«, wie er es nannte. Schließlich war es das, was das Judentum prägte: Ankämpfen gegen falsche Machtverhältnisse, indem man eine andere, eine jüdische Perspektive einnimmt: »Nicht mit Macht und Stärke, sondern durch den Geist G’ttes« (vgl. Secharia).

Auch mit der Mär, dass Religionen schuld an den meisten Kriegen in der Welt seien, räumte er in seinem Buch Not in G’ds Name auf. Dennoch blieb er kritisch gegenüber Extremisten, warnte Europa davor, als »Hotel« missbraucht zu werden, schon Jahre vor der Flüchtlingskrise. Die Würde des Andersseins ist laut Rabbiner Sacks eben nicht nur eine edle Forderung an willige Gläubige, sondern der respektvolle und friedfertige Umgang miteinander ist auch die unverhandelbare Voraussetzung für alle Mitglieder der Gesellschaft, wenn sie als solche in ihr akzeptiert werden wollen.

»Hey, ich habe gestern deinen Rabbiner im Fernsehen gesehen, war spannend!«

Seine Arbeit, seine Themenwahl war alles andere als beliebig. Er selbst erklärte zu Ende seiner Amtszeit 2013 als Oberrabbiner Englands, er habe gleich zu Beginn dieser Berufung 1991 festgestellt, dass das britische Judentum im Rückgang befindlich war: die Synagogen überaltert, die Jugend mehr am säkularen denn am religiösen Leben interessiert.

Damals beschloss er, die Probleme systematisch zu analysieren, um Strategien zu entwickeln und gegenzusteuern, indem er zu den jeweiligen Themen je ein Buch schrieb und so gezielt in die jüdische Gesellschaft hineinwirkte.

Das allein wäre schon bemerkenswert genug, aber er beließ es nicht dabei. Er setzte darauf und alles daran, dass seine Popularität, nicht zuletzt in den Medien, dazu beitragen könnte, auch säkulare Juden wieder für ihre Wurzeln zu interessieren.

SENDEZEIT Rabbiner Sacks berichtete einmal, dass er mit fünf Minuten Sendezeit auf BBC begonnen und am Ende mehr Fernsehzeit als die Queen gehabt habe. Wenn man ihm bei solchen Anekdoten zuhört, könnte man nur im ersten Moment Souveränität mit Arroganz verwechseln.

Denn ihm ging es um Folgendes: Wenn der nichtjüdische Nachbar zu einem Juden sagt: »Hey, ich habe gestern deinen Rabbiner im Fernsehen gesehen, war spannend!«, dann freut sich der Jude einerseits über die Popularität »seines« Rabbiners und denkt sich andererseits: »Hmm, wenn sogar mein nichtjüdischer Nachbar Judentum interessant findet, vielleicht sollte ich mich doch auch noch einmal damit auseinandersetzen …«

Rabbiner Sacks nutzte seine Begegnungen mit politischen Größen, wie zum Beispiel 1991 mit Michail Gorbatschow, um dessen Glasnost-Politik auch gegenüber Juden spontan in die Befreiungsgeschichte von Chanukka einzubinden. Und indem er uns, seinen zeitgenössischen Zuhörern, davon erzählte, band er wiederum uns in diese 2200 Jahre alte Geschichte ein.
Seine Popularität nutzte Sacks, um auch säkulare Juden wieder für ihre Wurzeln zu interessieren.

Bei alldem war es vor allem seine rhetorische Brillanz, die Reichhaltigkeit und innere Logik traditionellen Judentums und dessen Bereicherung für Debatten der Gegenwart mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, soziologischen Experimenten, archäologischen Funden oder neurologischen Beweisen zu belegen. Jahrtausendealte jüdische Texte wurden so zur Vorlage aktueller Gesellschaftsdebatten.

Keine Wissenschaft war zu abwegig, um sie nicht auch als Steilvorlage für die Gültigkeit und Zeitlosigkeit der Tora zu nutzen. Keine technische Methode blieb ungenutzt. Internet, YouTube, E-Mail-Newsletter, WhatsApp-
Gruppen mit PDF und Audiofiles, übersetzt in mehrere Sprachen, die Inspiration nur einen Knopfdruck entfernt.

RUF Der letzte Beitrag, den ich wie Tausende andere per WhatsApp (ich) oder E-Mail (meine Frau) zum Schabbat in seinem Namen erhalten habe, war übertitelt mit »Answering the call«. Der An- und Aufruf G’ttes an Awraham und damit an all seine Nachkommen. Es liegt an uns, ihn zu beantworten, immer wieder aufs Neue, zu jeder Zeit. »How can we continue Avrahams legacy today?« – »Wie können wir Awrahams Erbe heute fortsetzen?«, lautet die Frage am Ende des Artikels – der letzte Satz, den wir zu seinen Lebzeiten von einem großen Mann in seinem Namen lesen durften.

Rabbiner Sacks hat eindrucksvoll gezeigt und vorgelebt, wie man den g’ttlichen Ruf beantworten kann, und er hat uns einiges an Inspiration hinterlassen. Jetzt ist sein Wissen in der Welt, und es ist an uns, es lebendig zu halten und sein geistiges Erbe weiterzutragen. Answer the call! Sichrono Livracha − sein Andenken sei zum Segen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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