Talmudisches

Scheidungsurkunden im Krieg

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Im Talmud wird an zwei Stellen (Ketuwot 9b und Schabbat 56a) von einer ungewöhnlichen Maßnahme berichtet: »Rabbi Schmuel Bar Nachmani sagte im Namen Rabbi Jonathans: Wer in einen Krieg des Davidischen Hauses zog, schrieb seiner Frau eine Scheidungsurkunde.« Damit man Rabbi Jonathans Bemerkung nicht missversteht, sei angemerkt, dass das Schrei­ben einer Scheidungsurkunde noch nicht die Scheidung bewirkt; erst wenn der Mann (oder sein Bote) die Urkunde in die Hand der Frau gegeben hat, ist das Ehepaar geschieden (5. Buch Mose 24,1).

Es drängt sich die Frage nach dem Sinn dieses merkwürdigen Vorgangs auf. Denn in Wirklichkeit hatten König Davids Soldaten gar nicht die Absicht, sich von ihren Frauen zu trennen. Auch fragt man sich, wie die Prozedur juristisch konstruiert war. Talmudkommentare nennen verschiedene Gründe dafür, warum König Davids Soldaten so handelten. Der Kämpfer, der seiner Ehefrau eine Scheidungsurkunde gab, wollte ihr Ärger und Kummer ersparen; man kann im Überreichen der Scheidungsurkunde sogar einen Liebesbeweis erkennen.

Durch eine Scheidung können mögliche Schwierigkeiten gar nicht erst aufkommen

Vor welcher Gefahr, die der Frau des Soldaten drohte, wollte ihr Mann sie bewahren? Würde er kinderlos sterben, dann wäre die Witwe erst nach einer Chalitza-Zeremonie mit einem seiner Brüder berechtigt, eine neue Ehe zu schließen (5. Buch Mose 26, 5–10). Durch eine Scheidung können mögliche Schwierigkeiten gar nicht erst aufkommen, etwa dass der Schwager minderjährig ist und die Witwe jahrelang warten muss.

Ein anderer Grund, der zur Scheidungsurkunde des Soldaten vorgebracht worden ist, betrifft den Fall eines Kämpfers, der nach dem Ende des Krieges nicht heimkehrte; sein Schicksal ist ungewiss. Ohne eine Scheidungsurkunde bliebe die vielleicht noch junge Frau lebenslang an ihren verschollenen Mann gekettet.

Wenden wir uns nun der Frage zu, wie Scheidungsurkunden juristisch funktioniert haben. Der bekannte Talmudkommentator Raschi (1040–1105) vertritt die Ansicht, dass die Scheidungsurkunde mit einer bestimmten Bedingung verbunden war: Sollte der Soldat im Krieg fallen, so erfolgt die Scheidung rückwirkend zum Zeitpunkt der Übergabe der von der Tora geforderten Urkunde. Kehrte der Mann vom Schlachtfeld zurück, dann war die Bedingung nicht erfüllt worden und eine Scheidung nicht zustande gekommen.

Kehrte der Mann aus der Schlacht nach Hause, musste er seine Ex-Frau erneut heiraten

Gegen diese Interpretation von Raschi erhob sein Enkel, Rabbenu Tam, Einwände. Nach Meinung von Rabbenu Tam, die der Raschba, Schlomo Ben Aderet, teilt, hat der Soldat eine Scheidungsurkunde übergeben, die nicht an eine Bedingung geknüpft war. Die Ehefrau war also sofort geschieden. Kehrte der Mann von der Schlacht nach Hause, musste er seine Ex-Frau erneut heiraten. Diese Vorgehensweise wäre allerdings heute nicht praktisch: Denn ein Kohen darf seine geschiedene Frau bekanntlich nicht wieder heiraten.

Um das Schicksal der Frauen von Soldaten nicht unnötig zu erschweren, wurde im Krieg, den die Armee des Staates Israel seit Oktober 2023 gegen die Terrororganisation Hamas führt, folgende Maßnahme vorgeschlagen: Wer in den Krieg zieht, dem wird geraten, eine Art Vollmacht zu unterschreiben, die von Fachleuten erarbeitet wurde. Ein Soldat, der dieses Dokument vor Zeugen unterschreibt, beauftragt kompetente Rabbiner, seiner Frau eine Scheidungsurkunde zu übergeben, sollte nach Ende der Kampfhandlungen unbekannt sein, was mit ihm geschehen ist.

Die erwähnte Vollmacht gilt auch im Fall einer derart schweren Erkrankung, dass der Mann nicht mehr in der Lage ist, eine Scheidung zu beantragen. Für ebensolche Situationen, die in unserer Zeit nicht nur in einem Krieg vorkommen können, rät Rabbiner Yitzhak Shilat jedem Ehemann, eine Vollmacht für eine Scheidung zu erteilen – so könne er für das Wohlergehen seiner Lebensgefährtin in der Zukunft Sorge tragen.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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