Chesed

Schattenseiten

Grenzenlose Gefühle: eine Sängerin im »Chesed-Club« in Kiew Foto: Marco Limberg

Unser Wochenabschnitt handelt von verbotenen Beziehungen und wie sie bestraft werden. Es steht geschrieben: »Ein Mann, der seine Schwester, Tochter seines Vaters oder Tochter seiner Mutter nimmt, und er sieht ihre Blöße, und sie sieht seine Blöße – sündhafte Hingebung ist’s, gerodet seien sie vor den Augen der Söhne ihres Volks, die Blöße seiner Schwester hat er bargemacht, er trägt seine Verfehlung« (3. Buch Mose 20,17).

Das hebräische Wort für »sündhafte Hingebung« ist »Chesed« – eine sehr ungewöhnliche Verwendung, da Chesed in der Bibel stets als Güte und Gnade bezeichnet wird. Warum wird Chesed in diesem Zusammenhang als eine inzestuöse Beziehung beschrieben?

Beziehung Nachmanides, der Ramban (1194–1270), versteht den Vers anders: Chesed beziehe sich nicht auf den inzestuösen Akt, sondern beschreibe allgemein die gegenseitige Beziehung der Geschwister als Liebenswürdigkeit, so meint er. Ähnlich sieht es Sifra, ein halachischer Midrasch, den Raschi (1040–1105) zitiert. Er schreibt, dass G’tt Kain und Abel Gnade erwies, indem er ihnen erlaubte, ihre Schwestern zu heiraten, um die Bevölkerungsentwicklung voranzutreiben. Und obwohl es verboten ist, hat G’tt ihnen Chesed erwiesen, um der Menschheit die Möglichkeit zu geben, sich zu vermehren. Deshalb wird die Beziehung zwischen Bruder und Schwester als Chesed bezeichnet.

Die meisten Exegeten verstehen Chesed in unserem Vers jedoch als sündhafte Hingebung oder Schande. Der Grund dafür ist, dass Chesed, Schande, hier nicht etymologisch verwandt ist mit Chesed, Gnade, sondern mit dem aramäischen Chisuda, Schande. Nachmanides fragt, warum es im Hebräischen zwei so gegensätzliche Bedeutungen von einem Wort gibt, das in der Tora verwendet wird, um G’tt zu lobpreisen? So heißt es zum Beispiel, G’tt sei langmütig und von großer Gnade (4. Buch Mose 14,18), und an vielen weiteren Stellen findet Chesed eine ähnliche Bedeutung.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt, das Wort »Chesed« sei phonetisch verwandt mit dem Verb »aschad« (sich ergießen). In diesem Zusammenhang bedeutet Chesed »sich ganz hingeben«, also die Charaktereigenschaft, sich selbstlos für das Wohl eines anderen hinzugeben. »Chesed« beschreibt demzufolge ein sehr starkes Gefühl oder sogar ein Bedürfnis danach, sich grenzenlos und uneingeschränkt den anderen zu geben und alles mit anderen zu teilen.

Beschränkung Das ist jedoch nur ein Aspekt von Chesed. Wie alle menschlichen Charaktereigenschaften hat Chesed auch einen negativen Aspekt. Er liegt darin, dass ein Mensch sich in einen Zustand versetzen kann, in dem er jegliches Verständnis von Grenzen oder Beschränkung verliert. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Arajot, die laut der Tora verbotenen sexuellen Beziehungen. Die Tora enthält bestimmte Gesetze, die die Einhaltung von Grenzen vorsehen und Arajot deshalb verbieten. Diese Arajot werden in der Tora auch als Chesed bezeichnet, das Ausüben grenzenloser und uneingeschränkter Gefühle.

Es gibt zwei bekannte Figuren in der Tora, die diese negative Seite von Chesed repräsentieren: Jischmael und Lot. Jischmael war Awrahams Sohn, den Hagar ihm gebar. Unsere Weisen sagen, dass Jischmael tief in Arajot und Räuberei versunken war. Das war eine Folge der verzerrten Ausübung von Chesed.

Ein anderes Beispiel ist Lot, der Sohn Harans und damit ein Neffe Awrahams. Lot wuchs im Hause von Awraham auf, wo der Begriff Chesed und dessen Ausübung sehr zentral waren. Deshalb war Lot sehr daran gewöhnt, den Menschen Chesed entgegenzubringen und tat das auch in Sdom. Dort hatte er Gäste zu sich nach Hause eingeladen, obwohl er wusste, dass es das Gesetz der Stadt Sdom unter Todesstrafe stellte, Fremden zu helfen.

Kosten Er hatte es aus einem tiefen Gefühl von Gastfreundschaft getan. Allerdings übte Lot Chesed auch in einem verkehrten Sinn aus: Als die Menschen von Sdom vor seiner Tür standen, forderten sie ihn auf, ihnen die Gäste zu übergeben, um sie zu missbrauchen. Lot bot den Bewohnern der Stadt an, anstelle der Gäste seine Töchter auszuliefern. Das bedeutet, dass er bereit war, Chesed auf Kosten seiner Töchter, seiner Familie, zu tun.

Warum haben Jischmael und Lot die Charaktereigenschaft von Chesed so fehlerhaft angewendet? Die Antwort auf die Frage liegt in dem Verständnis der Charaktereigenschaften eines Menschen. Unsere Weisen sagen, dass es keine völlig negativen oder völlig positiven Charaktereigenschaften gebe. Es hängt davon ab, wie man die vorhandenen menschlichen Züge anwendet.

Die Bescheidenheit ist ein gutes Beispiel dafür: Eigentlich ist es eine positive Eigenschaft, sie hat aber auch negative Aspekte. Wenn man zum Beispiel jemanden bittet, ein kompliziertes Thema zu erklären, kann es geschehen, dass der Fragende die Erklärung nicht sofort versteht. Wegen seiner Bescheidenheit würde er jedoch nicht nachfragen. In dieser Situation wäre Bescheidenheit falsch, denn man würde darauf verzichten, eine komplizierte Sache zu verstehen. Dies wäre kein positiver Aspekt. Jetzt können wir verstehen, warum das Wort »Chesed« zwei solch unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Wenn man in seinem Charakter eine pauschale Liebenswürdigkeit kultiviert, kann sie zu einer Sünde verkommen.

Kontrolle Die jüdische Ethik sagt, dass es der Sinn eines Menschen in dieser Welt ist, seine Charakterzüge zu ändern. Was heißt es aber, sie »zu ändern«? Kann man seinen angeborenen Charakter ändern? Die Antwort liegt in dem Wort »ändern«. Man muss ihn nicht ändern, sondern man soll die Charaktereigenschaft in der jeweiligen Situation richtig anwenden. Auch wenn ein Charakterzug positiv ist, muss der Mensch je nach Situation abwägen, was das Richtige ist. Man kann und soll seine angeborenen Charaktereigenschaften nicht ändern, jedoch soll man sie kontrolliert anwenden.

Kehren wir zurück zu unserer Frage. Der Grund, warum Jischmael und Lot die Charaktereigenschaft von Chesed so fehlerhaft anwendeten, liegt darin, dass sie diese Eigenschaft gewissermaßen nur auf dem ererbten Niveau gelassen haben. Sie haben nicht daran gearbeitet, das vorhandene Potenzial richtig auszuschöpfen und sind einfach blind den angeborenen Charakterzügen gefolgt.

Man kann sehr viel für seine Freunde tun, so viel, dass man seine eigene Familie im Stich lässt. Die kontinuierliche Arbeit an den Charaktereigenschaften eines Menschen ist unerlässlich dafür, sein eigenes Potenzial, das einem von G’tt gegeben wurde, richtig zu entwickeln und sich seiner seelischen Vollkommenheit anzunähern. Ich wünsche uns allen, dass wir unser Potenzial ausschöpfen, unsere positiven Charakterzüge entwickeln und sie richtig anwenden.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

Inhalt
Der Wochenabschnitt enthält Anweisungen für das gesamte Volk Israel, heilig zu sein in Gedanken, Worten und Taten. Unter anderem werden gefordert: Respekt vor den Eltern, die Einhaltung des Schabbats, Ecken der Felder für Arme übrig zu lassen, nicht zu stehlen, Gerechtigkeit walten zu lassen, keine verbotenen sexuellen Beziehungen einzugehen und mit Maßen und Gewichten ehrlich umzugehen.
3. Buch Mose 19,1 – 20,27

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