Schmitta

Recht auf Ruhe

»Aber im siebten Jahr soll das Land einen Schabbat haben« (3. Buch Mose 25,4). Foto: Thinkstock

Schmitta

Recht auf Ruhe

Warum der Ewige alle sieben Jahre ein Schabbatjahr befiehlt

von Rabbiner Yehuda Teichtal  07.05.2018 12:17 Uhr

Eine der kontroversesten Debatten, die seit mehr als 130 Jahren im Heiligen Land hitzig geführt werden, ist die Diskussion über das Schabbatjahr (Schmitta). Und das alles wegen der revolutionären Verse unseres Wochenabschnitts Behar: »Wenn ihr in das Land kommt, das Ich euch gebe, dann soll dieses Land einen Schabbat für G’tt ruhen. Sechs Jahre lang dürft ihr eure Felder bestellen, aber im siebten Jahr soll das Land einen Schabbat der vollständigen Ruhe haben, einen Schabbat des Ewigen« (3. Buch Mose 25, 2–4).

Das Schabbatjahr ist eine faszinierende Mizwa. Sie ist dazu gedacht, dem Land Ruhe zu gönnen, damit es sich regenerieren kann. Das Schabbatjahr zeigt, dass das Judentum einen »Kapitalismus mit Gewissen« propagiert. Es fordert also ein wirtschaftliches System mit dem Besten aus zwei Welten: die Vorteile eines freien Marktes, der persönlichen Erfolg im Zusammenhang mit harter Arbeit zulässt – aber ohne die Nachteile der unternehmerischen Gier.

Wenn das Land G’tt gehört, dann können wir es nicht als exklusiven Besitz beanspruchen. G’tt schenkt uns Seinen Segen – aber es ist ganz klar, dass wir teilen müssen. Das Schabbatjahr ist Teil der gegenseitigen Kontrolle, die den Kapitalismus koscher und freundlich macht.

Geschenk Die Gesetze des Schabbatjahres repräsentieren einige Hauptprinzipien des Judentums: Erstens gehört uns unser Besitz nicht absolut, sondern er ist ein Geschenk des Schöpfers. Alle sieben Jahre entzieht Er uns den Besitz.

Zweitens ist die Erde nicht einfach ein Objekt, das wir benutzen können, wie wir wollen. Vielmehr müssen wir respektieren, dass sie ein Jahr der Ruhe braucht.

Und drittens verringert sich durch das Schmittajahr der Abstand zwischen Arm und Reich.

Viertens musste den Landwirten die Ge­legenheit gegeben werden, den wirtschaftlichen Wettbewerb vorübergehend zu unterbrechen, um sich ein Jahr lang dem Studium zu widmen und sich spirituell weiterzuentwickeln.

So überzeugend die Schabbatgesetze auch sein mögen – es gibt doch einen sehr bedeutenden Vorbehalt. Während der langen Zeit, in der das jüdische Volk im Exil lebte, waren die Schmitta-Gesetze nur theoretisch und abstrakt. Doch Ende des 19. Jahrhunderts gab es erstmals seit fast 2000 Jahren wieder Juden, die in Eretz Israel Land und Höfe besaßen. Und gemäß der Zählung des jüdischen Kalenders war das Jahr 5649 – nach dem bürgerlichen Kalender 1888/89 – ein Schmittajahr. Da fragten sich die jüdischen Bauern, ob die Gesetze der Schmitta nun wohl auch eingehalten werden müssten.

Die jüdischen Siedler wandten sich an Rabbiner in Osteuropa und baten um Rat. Als Antwort entwarfen drei anerkannte Gelehrte – Rabbiner Jehoschua von Kutna, Rabbiner Schmuel Mohliver von Bialystock und Rabbiner Zundel Kelpfish aus Warschau – das, was als »Heter Mechira« (Befreiung durch Verkauf) bekannt ist.

Demnach wird das Land für die Dauer des Schmittajahres an Nichtjuden verkauft (ähnlich wie das Chametz vor Pessach). Dieses »nichtjüdische Land« darf dann im siebten Jahr bearbeitet und sein Ertrag verkauft werden, da es ja offiziell einem Besitzer gehört, der nicht durch die Tora an die Einhaltung der Schmitta-Gesetze gebunden ist.

Einige berühmte Rabbiner in Europa lehnten die Regelung allerdings ab. Doch als 1895 das nächste Schabbatjahr anbrach und die Zahl der jüdischen Siedlungen seither deutlich zugenommen hatte, bestand große Sorge, dass ein volles Schabbatjahr diese neuen Siedlungen in den Ruin treiben würde. So stimmte der führende aschkenasische Rabbiner von Jerusalem, Rabbiner Jehoschua Leib Diskin, dem Heter Mechira unter bestimmen Bedingungen zu.

Dann kam das Schabbatjahr 5670 (1909/ 10), und die Debatte im Heiligen Land wurde hitzig: Die bekanntesten Rabbiner Eretz Israels stritten um die Kernfrage, ob die Gesetze der Schmitta für Juden gelten, die Land in Israel besitzen, oder für die Erde des Heiligen Landes.

Die Erde benötigt ein Jahr Ruhe – ganz gleich, wem sie gehört. Wenn dies zutrifft, dann muss jeder Ertrag des siebten Jahres mit derselben Heiligkeit behandelt werden, auch wenn das Land einem Nichtjuden gehört. Dies bedeutet, dass der Ertrag nicht auf dem Markt verkauft werden darf, denn er hat keinen Eigentümer.

Gewiss, der nichtjüdische Besitzer des Landes ist nicht verpflichtet, sich an die Gesetze der Schmitta zu halten, aber der Jude ist es – selbst wenn er mit dem im Heiligen Land gewachsenen Ertrag eines Nichtjuden handelt.

Schließlich nahm das israelische Oberrabbinat die »Befreiung durch Verkauf« an und verkauft bis heute vor einem jeden Schabbatjahr alle jüdischen Felder und Höfe im Land an Araber.

Doch über die Jahre hinweg haben viele Landwirte beschlossen, die Mizwa des Schabbatjahres zu erfüllen, ohne ihre Fel­der zu verkaufen. Sie nehmen sich ein Jahr frei, lernen Tora oder erfüllen andere Aufgaben und verzichten auf den Besitz ihrer Felder und Obstgärten. So lagen Schätzungen zufolge während des letzten Schmittajahres 2014/15 in Israel rund 120.000 Hektar brach – und die Tendenz steigt.

durchreise Eine berühmte Geschichte verdeutlicht, dass die Schmitta für alle gilt, auch jene, die außerhalb Israels leben. Der berühmte Weise, Rabbiner Dov Ber, der Magid von Mezrich, wurde einst von einem wohlhabenden Bewunderer besucht. Als der Besucher in das winzige Haus des Rabbiners trat, war er entsetzt: Im Wohnzimmer stand nichts als ein alter Tisch und eine wackelige Sitzbank, die Küche war winzig, und es gab keinerlei moderne Annehmlichkeiten.

Da wandte sich der Mann an den Rabbiner und fragte: »Wie können Sie so leben? Wo sind all Ihre Sachen?« Der Magid fragte ihn: »Wie sind Sie hierhergekommen?« »Mit der Kutsche«, antwortete der Besucher.

Der Magid ging hinaus, betrachtete die Kutsche und sagte zu seinem Gast: »Ich sehe kein Esszimmer, keine Küche und nicht einmal ein Bett in diesem Ding!« »Aber Rabbi, ich fahre doch nur durch Ihre Stadt, Reisende nehmen keine Betten und Küchen mit!« Da antwortete der Magid: »Auch ich bin nur auf der Durchreise.«

Dies ist eine der Botschaften der Schmitta: Wir alle ziehen durch diese Welt und halten uns hier nur etwa 120 Jahre auf, um Seinen Willen zu erfüllen. Da müssen wir uns nicht von überflüssigen Annehmlichkeiten mitreißen lassen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Paraschat Behar

Der Wochenabschnitt führt das Erlass- und das Joweljahr ein. Das Erlassjahr – es wird auch Schabbatjahr genannt – soll alle sieben Jahre sein, das Joweljahr alle 50 Jahre. Die Tora fordert, dass der Boden des Landes Israel einmal alle sieben Jahre landwirtschaftlich nicht genutzt werden darf, sondern brachliegen muss. Dies geschehe »dem Ewigen zu Ehren«. Im Joweljahr soll alles verkaufte Land an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden, die es erhielten, als das Land nach der Eroberung verteilt wurde (Jehoschua 13, 7–21). Außerdem müssen im Joweljahr alle hebräischen Sklaven freigelassen werden.
3. Buch Mose 25,1 – 26,2

Paraschat Bechukotaj
Die Verheißung des Segens für diejenigen, die den Geboten folgen, ist das Thema dieses Wochenabschnitts. Dem Segen steht jedoch auch ein Fluch für diejenigen gegenüber, die die Gebote nicht halten. Im letzten Teil der Parascha geht es um Gaben an das Heiligtum. Sie können mit einem Gelübde verbunden sein (»Wenn der Ewige dies und jenes für mich tut, werde ich Ihm das und das geben«) oder aus Dankbarkeit geleistet werden.
3. Buch Mose 26,3 – 27,34

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Beha’Alotcha

Damit es hell bleibt

Wie wir ein Feuer entzünden und dafür sorgen, dass es nicht wieder ausgeht

von Rabbiner Joel Berger  13.06.2025

Talmudisches

Dankbarkeit lernen

Unsere Weisen über Hakarat haTov, wie sie den Menschen als Individuum trägt und die Gemeinschaft zusammenhält

von Diana Kaplan  13.06.2025

Tanach

Schwergewichtige Neuauflage

Der Koren-Verlag versucht sich an einer altorientalistischen Kontextualisierung der Bibel, ohne seine orthodoxen Leser zu verschrecken

von Igor Mendel Itkin  13.06.2025

Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

Leisten die Deutschen genug? Eine jüdische Perspektive auf das Thema Faulheit

von Sophie Bigot Goldblum  12.06.2025

Nasso

Damit die Liebe bleibt

Die Tora lehrt, wie wir mit Herausforderungen in der Ehe umgehen sollen

von Rabbiner Avichai Apel  06.06.2025

Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

Was das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten über den Wert des Lebens verrät

von Rabbiner Avraham Radbil  30.05.2025

Schawuot

Das Geheimnis der Mizwot

Der Überlieferung nach erhielt das jüdische Volk am Wochenfest die Tora am Berg Sinai. Enthält sie 613 Gebote, oder sind es mehr? Die Gelehrten diskutieren seit Jahrhunderten darüber

von Rabbiner Dovid Gernetz  30.05.2025

Tikkun Leil Schawuot

Nacht des Lernens

Die Gabe der Tora ist eine Einladung an alle. Weibliche und queere Perspektiven können das Verständnis dabei vertiefen

von Helene Shani Braun  30.05.2025