Corona

Praktische Vernunft

Mit Maske: Gebet unter Corona-Bedingungen in der Frankfurter Westend-Synagoge Foto: Rafael Herlich

Corona verliert durch die fortschreitenden Impfungen zunehmend sein Bedrohungspotenzial – oder doch nicht? Fest steht, dass die Pandemie nach wie vor viele Fragen aufwirft: Wie verlässlich ist der Impfschutz, was ist mit einer vierten Welle und den neuen Varianten?

Fragen bleiben für alle, die sich mit mehreren Menschen treffen, in Innenräumen zusammenkommen oder gar größere Events veranstalten wollen. Aus der Konzert- und Veranstaltungsbranche hören wir, dass nur Geimpfte als Besucher zugelassen werden sollen, jedenfalls ab September. Wer sich weigere, geimpft zu werden, könne nicht erwarten, dass der Rest der Bevölkerung darunter leide.

hohe feiertage Ab September? Da stehen auch unsere Hohen Feiertage an. Muss zu Rosch Haschana oder Jom Kippur gelten: G’ttesdienste nur für Geimpfte? Müssen die Gemeindevorstände erneut improvisieren, konzipieren, gar kontrollieren? Vorbildlich haben die Gemeinden schon lange angepasste Konzepte entwickelt und ausgerollt.

Vorbildlich haben die Gemeinden schon lange angepasste Konzepte entwickelt und ausgerollt.

Aber was ist eigentlich die Ausgangslage? Immerhin sind wir im Kernbereich religiöser Betätigung unterwegs, wenn es gilt, auch unter diesen Bedingungen die jahrtausendealte Reihe der G’ttesdienste nicht abreißen zu lassen. Und das garantiert uns das Grundgesetz auch. Artikel 4 gewährleistet grundsätzlich einschränkungslos die Glaubensfreiheit einschließlich – was hier besonders interessiert – deren organisierte Ausübung.

Unsere G’ttesdienste haben also Verfassungsrang – nicht ohne Weiteres einzuschränken durch eine Landesverordnung hier oder eine kommunale Maßgabe dort. Bei einem sogenannten schrankenlos gewährten Grundrecht wie hier – kurzer Jura-Exkurs – können nur andere Grundrechte überhaupt eine Einschränkung bilden.

risiken Nun ist auch das nicht so einfach – begeben sich die G’ttesdienstbesucher doch ganz freiwillig in die Synagoge, ob geimpft oder ungeimpft. Ja, da kann man streiten, ob der Staat zur Vernunft zwingen kann. Ich würde aber meinen, dass es im Kern auch der Menschenwürde, welche Artikel 1 des Grundgesetzes schützt, zugehört, selbst zu entscheiden, ob man bestimmte Risiken eingeht. Dürften Polizei oder Gesundheitsamt einen Kabbalat Schabbat stören, weil Ungeimpfte oder Ungetestete anwesend sind? Nein, auf keinen Fall.

Bezeichnenderweise sind die eingangs geschilderten Konzepte der Konzertbranche ja auch zunächst freiwillige, geboren aus der Überlegung, dass man aus Eigeninteresse nachweislich Ansteckungen verhindern will, um nicht wieder den Gesetzgeber mit Verboten auf den Plan zu rufen. Etwas, das unsere Synagogen-»Veranstaltungen« weniger betrifft, ist doch die verfassungsmäßige Wertigkeit derselben höher. Höher auch als bei Sportveranstaltungen oder Volksfesten.

Man kann streiten, ob der Staat zur Vernunft zwingen kann.

Da hat sich zuletzt, man nehme die Fußballspiele im Infektionsgebiet Großbritannien während der Europameisterschaft, eine Rangordnung ganz nach Popularität durchgesetzt, ohne Rücksicht auf die nachher in die Tausende gehende Zahl der Infizierten. Eine Rangordnung, die mit dem politischen Einfluss der veranstaltenden Verbände zu tun hat, nichts aber mit dem viel wichtigeren verfassungsmäßigen Wertesystem. Das ist derweil in bedauernswerter Weise aus dem Blick geraten.

entscheidungsfreiheit Das also können wir festhalten: Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Akteure denkbar frei entscheiden können, dann ist dies die Religion, deren Ausübung einschließlich der Entscheidungsfreiheit, wie wir Juden unsere G’ttesdienste abhalten wollen. Wir müssen uns nicht gleichsetzen lassen mit Sport oder Kulturbetrieb. Der juristische Befund: nicht gänzlich schrankenlose Freiheit, aber vergleichsweise sehr weitgehende Freiheit.

Woran das nichts ändert? An Eigenverantwortung als moralischem Appell. Auf die Religion und ihre Vorgaben dazu will ich hier nicht eingehen. Da können Rabbiner mit Bezug auf halachische Quellen besser Auskunft geben. Der verfassungsrechtliche Befund ändert nichts an der Verantwortung der Gemeindevorstände.

Ich habe einschließlich unseres eigenen Vorstandes noch niemanden erlebt, der nicht äußerst gründlich nachdenkt.

Ich habe einschließlich unseres eigenen Vorstandes noch niemanden erlebt, der nicht äußerst gründlich nachdenkt. Wir kennen den Appell, »einen Zaun um die Tora zu bauen«, und da beobachte ich dieselben Bautätigkeiten auch um die verfassungsmäßigen Rechte. Sollten wir weiter gehen, um deutlich zu machen, dass wir Jom Kippur nicht mit einem Fußballspiel vergleichen lassen?

prinzipienreiterei Ich meine: Nein. Es ist, gerade angesichts vieler älterer, besonders gefährdeter Gemeindemitglieder, nicht die Zeit der Prinzipienreiterei. So gerne ich als Rechtsanwalt den notwendigen Konflikt suche, wenn es größeren Zielen dient: Hier schrumpfe auch ich auf ein kleinlautes Wesen zusammen, das sich an praktischer Vernunft orientiert, mehr der Nützlichkeit als der bis ins Äußerste gedehnten Legalität folgt.

Seien wir also stolz darauf, dass wir prinzipiell mehr könnten, und tun wir das praktisch Vernünftige. Immer wieder neu, in jeder spontan gegebenen Situation, die sowieso kein staatlicher Verordnungsgeber vollständig erfassen kann. Freiheit haben wir. Praktische Vernunft haben wir natürlich auch.

Der Autor ist Jurist, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Göttingen und Publizist. In Kürze erscheint sein neues Buch »Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen« (Kiepenheuer & Witsch).

Ha'Asinu

Die Kraft der Musik

Der Tanach enthält bedeutende Lieder – aber auch beim Beten, Lesen und Toralernen wird gesungen

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  02.10.2024

Mizwot

613 Kerne, 613 Chancen

Mosche Sofer schrieb im 18. Jahrhundert, dass der Granatapfel genauso viele Kerne enthält, wie die Tora Gebote und Verbote zählt. Hier stellen wir acht vor, die Sie im neuen Jahr ausprobieren können

von Rabbiner Dovid Gernetz  02.10.2024

Rosch Haschana

Es beeinflusst unser Schicksal, wie wir den Neujahrstag begehen

Ein Gastbeitrag von Rabbiner Elischa Portnoy

von Rabbiner Elischa Portnoy  02.10.2024

Israel

David Josef zum neuen sephardischen Oberrabbiner Israels gewählt

Bei der Wahl des aschkenasischen Konterparts kam es hingegen zu einem Patt

 30.09.2024

Familie

»Mein Mann und ich hatten das Gefühl zu versagen«

Seit Jahrtausenden ist es ein jüdisches Ideal, viele Kinder zu bekommen. Doch schon die Tora berichtet, wie kompliziert der Weg dahin sein kann. Hier erzählen zwei Frauen ihre Geschichte

von Mascha Malburg  29.09.2024

Nizawim-Wajelech

Einer für alle

Die Tora lehrt, dass jeder Einzelne Verantwortung für das gesamte Volk trägt

von Yaakov Nektalov  26.09.2024

Antisemitismus-Forschung

Wie Europa im Mittelalter antisemitisch wurde

Donald Trump hat ausgerechnet bei einem Event gegen Antisemitismus angedeutet, die Juden seien schuld, wenn er die Wahl verliere. Was hat Antisemitismus von heute mit dem Mittelalter zu tun?

von Christiane Laudage  24.09.2024

Jüdische Kulturtage

Festzug durch Berlin-Mitte

In einer feierlichen Zeremonie wurde eine neue Torarolle mit den Namen der 1200 israelischen Opfer vom 7. Oktober vollendet

 26.09.2024 Aktualisiert

Interview

»Diese Tora ist ein Zeichen, dass wir überlebt haben«

Micha Mark Farnadi-Jerusalmi über das Schreiben religiöser Texte und den Beruf des Sofers

von Mascha Malburg  22.09.2024